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Fröhliche Wiederkehr

Fröhliche Wiederkehr

Titel: Fröhliche Wiederkehr
Autoren: Horst Biernath
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gehört zu haben, um so besser erinnere ich mich ihrer Worte:
    Es war damals ein Sommer, in dem die Sonne vom Mai an über die Memelniederung zu scheinen aufhörte. Kein Lichtstrahl kam vom Himmel, und aus grauen Wolken, durch die kein Schnupftüchelchen Blau schimmerte, fiel ein sickernder, suppender, trommelnder Regen zur Erde nieder. Der Roggen verfaulte auf dem Halm, die Felder und Wiesen wurden zu Sümpfen, und dann kam das Schlimmste, auch die Kartoffeln erstickten und verfaulten im Naß. In den letzten Julitagen erkrankte mein jüngster Bruder Felix, ein Junge von sechs Jahren. Er fieberte, bekam Halsschmerzen und Atemnot, und es dauerte eine Weile, bis die Eltern erkannten, daß es die Bräune war. So nannte man damals die Diphtheritis. Der Reitknecht, den mein Vater zum Doktor nach Heydekrug schickte, kam nach schwierigem Ritt auf ersoffenen Wegen mit dem Bescheid zurück, der Arzt würde erst zur Nacht daheim erwartet, da zu allem Unglück in der Jugnater Gegend auch noch das Brunnenfieber — der Typhus — ausgebrochen sei. Der kleine Felix phantasierte bereits, und seine Atemnot wurde immer qualvoller anzusehen. Die Nacht brach herein. Mein Vater starrte durchs Fenster in den rinnenden Himmel. Und plötzlich drehte er sich um, legte mir die Hand auf die Schulter: Lauf, Kind, der Jurgaitis soll den Jagdwagen anspannen!
    Du kommst mit dem Wagen nie im Leben durch, sagte meine Mutter mutlos. Aber Vater ließ sich nicht beirren. Es muß gehen! sagte er entschlossen; ich nehme die Schecken an die Deichsel und die Rappstute gesattelt als Handpferd, und wenn der Wagen stecken bleibt, nun gut, dann lege ich mir das Jungchen für den Rest des Weges in den Arm und reite. Und zu mir sagte er: Nun lauf schon, Marjellchen! Und zur Mutter: Pack mir den Jungen warm ein! Und damit war es gesagt und getan. Meine Mutter bettete das keuchende Kind in die Mulde des Kutschbockes dem Vater zu Füßen, er spannte die schwarze Lederdecke schützend über ihn, griff nach der Peitsche und fuhr bald darauf nach kurzem Abschied durch das Hoftor auf die sumpfige Landstraße hinaus, in den Nebel und in die fahle Nacht hinein, denn ganz dunkel wurde es dort oben im Sommer nie. Es war ein Weg von fünf Meilen bis zum Arzt. Die Doktoren waren damals dünn über das Land verstreut. Der Vater schonte die Pferde nicht, der erstickte Atem des kleinen Felix trieb ihn voran.
    So mochten sie die Hälfte des Weges zurückgelegt haben, als mein Vater merkte, daß die Pferde verhaltener liefen, nicht etwa erlahmten oder müde wurden, sondern abstemmend vom Wege drängten und den leichten Wagen bald nach links und bald nach rechts herüberrissen, als suchten sie nach einem Fluchtweg quer über die ersoffenen Äcker, in denen der Wagen rettungslos stecken geblieben wäre. Auch das Sattelpferd, ein frommes Tier sonst, gebärdete sich ängstlich, schnob und legte die Ohren flach an, warf den Hals zurück und querte, kurzum, es sah gerade danach aus, als ob die Pferde im nächsten Augenblick aus unersichtlichen Gründen durchgehen wollten.
    Wie ich deinen Urgroßvater kenne, Jungchen, fuhr Großmutter dann fort, nachdem sie zwanzig wohlabgezählte Hoffmannstropfen auf ein Stückchen Würfelzucker geträufelt und als Stärkung der Lebensgeister zu sich genommen hatte, wird er mit Flüchen über die unvernünftige Kreatur nicht gerade gespart haben. Er war ein kleingewachsener Mann, aber mächtig breit in den Schultern und ungeheuer stark. Wenn er einen Doppelzentnersack Gerstenschrot auf den Wagen warf, so sah es aus, als spiele er damit. Aber hier, ob Güte oder Zorn, die Pferde brachen mit dem Wagen hinüber und herüber, und nur seine Riesenkraft verhinderte sie am Durchgehen querfeldein. Und dann standen sie plötzlich. Sie verhielten zitternd und schnaubend mitten auf der Straße, drängten zurück, wurden mit der Peitsche hart vorangetrieben und zogen auch wieder an, aber für wenige Schritte nur, und mit jener entsetzlichen Angst in den weißrollenden Augäpfeln, die der kennt, der einmal hinter durchgehenden Pferden auf dem Kutschbock saß. Und dann war auch für meinen Vater der Augenblick gekommen, von einem ungeheuren Entsetzen gepackt und für Sekunden gelähmt zu werden. Die Straße nämlich unter ihm lebte plötzlich. Sie schwamm unter ihm dahin wie ein grauer Strom. So weit das Auge durch die milchige Dunkelheit der nördlichen Sommernacht reichte, quoll es heran, ein raschelndes, quiekendes Gewimmel, ein Millionenheer von hungrigen
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