Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fröhliche Wiederkehr

Fröhliche Wiederkehr

Titel: Fröhliche Wiederkehr
Autoren: Horst Biernath
Vom Netzwerk:
Vorfahren ererbte Schädelform und Gesichtsbildung, wie die Statur und die breiten Schusterdaumen, die sicherlich nicht daher stammen, daß der Großvater väterlicherseits tatsächlich zu Arys Schuhmachermeister war. Denn so oft kann er sich auch als Lehrling dieses ehrsamen Handwerks nicht auf den Daumen gehauen haben, daß das zu einem Erbstück führte. Diese Geschichten sind ein Stück von mir, ein merkwürdiges Stück allerdings, denn wenn meine Enkel oder auch Freunde mich drängen, sie zu erzählen oder mich an Dinge aus jenen vergangenen Tagen zu erinnern, die noch in mir ruhen und keine Form gefunden haben, dann beschleicht mich immer wieder das Gefühl, Ereignisse von einem anderen Planeten zu berichten. Von Obstgärten, in denen die großen Alexander-Äpfel so riesig wie Kinderköpfe an den Zweigen hingen, von Tagen, da der Lyck-Fluß von Fischen wimmelte, und die laichenden Hechte zu Dutzenden bleifarben, dick und unbewegt in den Altwassern standen. Vom Kaufladen um die Ecke, wo Zucker, Salz und Mehl aus braunen Schubladen in spitze Tüten geschaufelt wurden, die der blau beschürzte Gehilfe blitzschnell über den Daumen drehte. Von holzgepflasterten Straßen, die von einem Ende bis zum anderen ein riesiger Spielplatz waren, auf dem uns nur selten eine Pferdedroschke störte. Der von dicken, gelben Rössern gezogene Bierwagen bot herrliche Gelegenheit, auf dem in Ketten schwankenden Hebebaum ein Stück mitzufahren, solange, bis irgend ein Neidhammel »Hau über!« rief, worauf der Kutscher, wenn er schlecht gelaunt war, die lange Peitsche über unsere Köpfe zischen ließ. Einmal verlor ein Junge durch solch einen Peitschenschlag ein Auge, ein Betriebsunfall, der dem Kutscher vor Gericht eine Menge Scherereien einbrachte. Wir verdankten unserem fortan einäugigen Spielgefährten, daß die Kutscher lange Zeit, bis wir aus dem Aufspring- und Mitfahr-Alter herauswaren, mit ihren Peitschen sehr behutsam umgingen. Wahrhaftig, es war ein anderer Planet. Kein paradiesischer Planet, kein Garten Eden, das will ich damit nicht sagen. Es war ein anderer Planet, der Erde ähnlich, aber ohne Autos, ohne Flugzeuge, ohne Lärm und ohne Gestank, zwar schon mit Straßenbahnen, die aber auch nur in den Großstädten und dort fernab von unseren Spielstraßen über die Schienen ratterten. Der ärgste Umweltschmutz bestand aus Pferdeäpfeln und Hundeköteln. Aber auch das war gar nicht schlimm, denn wer einen Garten hinter dem Haus hatte — und wer hatte den nicht? — sorgte mit Schaufel und Besen dafür, daß die Pferdeäpfel den Walnußbaum oder die Karotten und Küchenkräuter düngten. Und dieses Geschäft besorgten Dienstmädchen, die jung und ungeschliffen als Rohdiamanten vom Lande kamen und das Haus nach einem Schleifprozeß, der sechs bis acht Jahre dauerte, als Brillanten verließen. Für gewöhnlich heirateten sie, wenn sie Rühreier, Erbsensuppe und Schweinebraten zuzubereiten verstanden, einen Maurer aus Rothfliess.
    Eine wahre Perle unter unseren Mädchen war Anna, Anna Ballnies. Ihr Vater war Flößer. Sie kam aus dem Litauischen, und ich verdanke ihr, daß ich heute noch auf litauisch zählen kann: wäns — do — tris — tettares — pente... Sie trat den Dienst bei uns 1906 als fünfzehnjähriges Mädchen an und schlief auf einem Bett, das abends aus dem unteren Fach eines Geschirrschrankes herausgezogen wurde, in der Küche. Wie hoch ihr Lohn war, weiß ich nicht, aber ich möchte annehmen, daß er einen Taler im Monat nicht überstieg. Dafür bekam sie die abgelegten Kleider von der Gnädigen. Über diese sozialen Zustände habe ich mir allerdings erst sehr viel später Gedanken gemacht. Aber Anna scheint sich bei uns wohl gefühlt zu haben, denn sie übersiedelte mit uns, als sich mein Vater 1910 nach Königsberg versetzen ließ. Dort bezog sie eine, wenn auch unheizbare Mädchenkammer, drei Meter lang und anderthalb breit. Die Petroleumlampe durfte sie aus der Küche mitnehmen und bis zehn Uhr brennen lassen. Denn sie las leidenschaftlich gern, die Marlitt und eine in unendlichen Fortsetzungen und mit knallbunten Titelseiten erscheinende Heftserie »Prinzeß Übermut«, deren Abenteuer sie mir vorlas und mir damit die erste Begegnung mit der Literatur vermittelte. Anna blieb zehn Jahre bei uns. Sie heiratete 1916 einen Maurermeister, der es durch Fleiß, Verstand, Geschick und günstige Grundstücksspekulationen zu Ansehen und Vermögen brachte, zu mehr Vermögen jedenfalls, als es mein Vater jemals
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher