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Frischluftkur: Roman (German Edition)

Frischluftkur: Roman (German Edition)

Titel: Frischluftkur: Roman (German Edition)
Autoren: Kirsten Rick
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Kumpels – Freunde würde er sie nicht gerade nennen – und, das ist ganz wichtig, Publikum. Wenn er richtig in Stimmung kommt, dann fragt sich Zitterkalle, was für Abenteuer diese Welt einem unerschrockenen Mann wie ihm zu bieten hat. Antworten auf diese Frage sind meist schnell gefunden, ihm fällt immer etwas ein, und wenn nicht, dann macht einer seiner Kumpels einen Vorschlag. Zitterkalle zögert nie, die Ideen umzusetzen. Wenn er zögern würde, könnte er ja Zeit haben, nachzudenken und vielleicht etwas Abstand nehmen von den, wie er es nennt, Herausforderungen. Aber so, im Licht des Augenblicks, sind die Verlockungen meist übermächtig, zu aufregend, als dass man sie ignorieren könnte. Und wenn dann noch eine Wette ins Spiel kommt, ist Zitterkalle erst recht bei seiner Ehre gepackt. Er ist bereit, diese Ehre bis zum Äußersten zu verteidigen. Ungeachtet der Frage, ob spontane Aktionen wie der legendäre Nacktauftritt beim Fußballspiel gegen den TSV Dröpplenburg anno 1998 dazu geeignet sind. Kalle tut, was ein Mann tun muss, sei es nun, mit einem selbst gebastelten Gleitschirm von der Autobahnbrücke zu springen oder Bauer Harms' Zuchtbullen zuzureiten.
    Und egal, was alles schiefgeht: Morgen ist ein neuer Tag, und zwar meistens einer, an dem Kalle alles vergessen und nur noch starke Kopfschmerzen hat. Seltsamerweise können sich alle anderen stets gut an Zitterkalles Stunts erinnern. Und Wilma vergöttert ihn geradezu dafür, dass er ihr immer neuen Gesprächsstoff liefert.
    Aber ohne Bier ist Zitterkalle nur vorsichtiger Optimist und mehr gelangweilter Friedhofsgärtner. Eigentlich wollte er einen Beruf, bei dem er viel mit Menschen zu tun hat. Stadionsprecher wäre er gerne geworden oder etwas beim Film. Oder wenigstens Verkäufer im Getränkeabholmarkt. Aber für all das ist er nüchtern zu schüchtern. Er mag Menschen, vor allem Frauen, aber er hat auch ein wenig Angst vor ihnen. Angst, sie könnten ihn vielleicht nicht so sehen wie er sich selbst. Und da Kalles Bild von sich außerordentlich schillernd ist, scheint es ihm wahrscheinlich, dass der Eindruck, den andere von ihm haben, ein wenig davon abweicht. Da ist Kalle nicht mehr Optimist, sondern Realist.
    Die Frauen hier im Dorf, die sind ganz schön forsch, da passiert es ihm manchmal – also, eigentlich immer –, dass er den Mund nicht aufbekommt. Zum Glück hat er dem Ideenkreis Junger Landfrauen, diesen Femmes fatals, die beinahe so aussehen wie die reichen Damen aus den Fernsehserien, nicht viel zu sagen. Doch mit Wilma würde er schon manchmal gerne reden. Aber die weiß immer schon alles über ihn, mehr jedenfalls, als er selbst. Und das ist ihm peinlich. Also redet Zitterkalle vorwiegend in seinem Job auf dem Friedhof. Mit den Toten. Die hören wenigstens gut zu, wenn er ihnen ganz leise erzählt, was für ein toller Typ er ist. Aber im Winter gibt es nicht viel zu tun, nur hin und wieder Schnee schippen oder Gestecke binden. Und heute ist Sonnabend, da gibt es gar nichts zu tun. Und es ist noch nicht mal mehr Bier da.
    Ohne Bier kann Zitterkalle sein Wochenende nicht genießen. Es muss also Nachschub her.
    Zitterkalle geht wieder in seine Wohnung und überlegt. Erst mal anziehen. Jacke und so, vielleicht auch noch eine Cordhose über die Schlafanzughose. Stiefel. Noch was? Nein, das dürfte reichen. Ach so, ja, Pudelmütze auf. Und dann auf zum nächsten Bier. Doch wohin?
    ***
    Wilma lehnt ihren Alibibesen an die Hauswand und geht rein. Es ist einfach zu kalt, niemand kommt vorbei und nach stundenlangem Wachpostendienst ohne jeglichen Informationsfluss wird selbst ihr langweilig. Sie ärgert sich ein wenig, dass Zitterkalle nicht mit ihr reden wollte. Der ist seltsam geworden, seit ihm vor achtzehn Jahren seine Frau weggelaufen ist und er ein paar Jahre später die kleine Landwirtschaft aufgeben musste, weil er das alleine nicht geschafft hat. Friedhofsgärtner ist er dann geworden. Dass ist doch kein anständiger Beruf, immer mit den Toten reden. Sieht ja selbst schon manchmal aus wie tot, der Arme , denkt Wilma. Wie ein knorriger Baum, der zu wenig Wasser und zu viel Wind abbekommen hat. Das Kind hat Zitterkalles Frau mitgenommen, vierzehn war der Junge damals, und beide wurden nie wieder im Dorf gesehen. Nun müsste Zitterkalle – Wilma rechnet kurz nach – achtundfünfzig sein. Drei Jahre jünger als sie.
    Früher, als junge Frau, fand sie ihn mal ganz fesch. Da hieß er noch Kalle, ohne das Zittern. Auf dem Feuerwehrball hat
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