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Friedhof für Verrückte

Friedhof für Verrückte

Titel: Friedhof für Verrückte
Autoren: Ray Bradbury
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…«
    »Sonst kommt niemand in Frage! Lehnen Sie nicht so rasch ab. Die meisten Menschen würden dafür sterben, wenn sie das Erbe …«
    »Sterben ist genau der richtige Ausdruck. Ich wäre in weniger als einem Monat tot, ein Wrack, ein Säufer, tot.«
    »Sie verstehen mich nicht. Ich habe keinen anderen Sohn außer Ihnen.«
    »Tut mir leid, wenn dem so ist. Warum ausgerechnet ich?«
    »Weil Sie der Narr sind, der die Wahrheit spricht. Ein richtiger Narr, keine Fälschung. Jemand, der zuviel redet, aber wenn man genau zuhört, stellen sich die Worte als richtig heraus. Sie können gar nicht anders. Die guten Dinge kommen einfach so aus Ihnen heraus.«
    »Aber ich habe nicht, wie Manny, schon seit Jahren am Spiegel geklebt und Ihren Worten gelauscht.«
    »Er schwätzt, aber seine Worte sagen nicht viel.«
    »Er hat dazugelernt. Mittlerweile muß er doch wissen, wie man die Sache anzugehen hat. Lassen Sie mich für ihn arbeiten!«
    »Letzte Chance? Letztes Angebot?« Seine Stimme wurde schwächer.
    »Soll ich etwa meine Frau, meine Schriftstellerei und mein ganzes Leben aufgeben?«
    »Aah«, flüsterte die Stimme. Und dann: »Ja … Nun … endlich … vergib mir, Vater, denn ich habe schwer gesündigt.«
    »Das kann ich nicht.«
    »Doch, du kannst, und segne mich. Das ist die Aufgabe des Priesters. Vergib mir und segne mich. Es kann jeden Augenblick zu spät sein. Schick mich nicht für alle Ewigkeit in die Hölle!«
    Ich schloß die Augen und sagte: »Ich segne dich.« Und dann sagte ich: »Ich vergebe dir, mein Gott, auch wenn ich dich nicht verstehe!«
    »Wer versteht mich schon?« keuchte er. »Ich nicht.« Sein Kopf sank gegen die Holzwand. »Vielen Dank.«
    Seine Augen schlossen sich im All, wo es keine Geräusche gibt. Ich fügte meine eigene Tonspur hinzu. Das Geräusch eines mächtigen Tores, das sich über dem Vergessen schließt, Grabdeckel, die knallend zufallen.
    »Ich vergebe dir!« schrie ich auf die schreckliche Fratze ein.
    »Ich vergebe dir …«, schlug das Echo meiner Stimme aus der Höhe der Kirche zurück.
    Die Straße war leer.
    Crumley, dachte ich, wo bleibst du?
    Ich rannte los.
     

72
     
    Jetzt mußte ich noch einen letzten Ort aufsuchen.
    Ich stieg im Dunkeln auf die Türme von Notre Dame.
    Die Gestalt hockte in der Nähe der obersten Brüstung des linken Turmes, nicht weit entfernt von einem steinernen Dämon, dessen monströses Kinn auf seinen Hornklauen ruhte, während der Blick über ein Paris schweifte, das nie existiert hatte.
    Ich balancierte hinüber, atmete tief durch und rief: »Du …?« Dann mußte ich stehenbleiben.
    Die Gestalt, die dort mit dem Gesicht im Schatten verborgen kauerte, bewegte sich nicht.
    Noch ein tiefer Atemzug: »Hier.«
    Die Gestalt setzte sich auf. Der Kopf und dann das Gesicht schoben sich in den schwachen Widerschein der Lichter der Stadt.
    Tief durchatmen; dann sagte ich: »Roy?«
    Das Monster drehte sich zu mir um. Ein perfektes Duplikat desjenigen, das vor wenigen Minuten im Beichtstuhl zusammengebrochen war.
    Die schreckliche Grimasse fixierte mich, die schrecklichen, tosenden Augen ließen mein Blut gefrieren. Die entsetzliche Wunde von einem Mund klaffte auf, schmatzte und stieß ein einziges Wort aus: »… Jaaaa.«
    »Es ist alles vorbei«, sagte ich mit brüchiger Stimme. »Mein Gott, Roy, komm da runter.«
    Das Monster nickte. Seine rechte Hand hob sich, um an seinem Gesicht zu ziehen, um das Wachs, das Make-up, die Schreckensmaske und den Ausdruck äußerster Verblüffung abzuschälen. Mit zur Klaue geformten Fingern bearbeitete er sein Alptraumgesicht. Unter den Fetzen kam mein alter Schulfreund zum Vorschein und schaute mich an.
    »War ich ihm ähnlich?«
    »O Gott, Roy.« Vor Tränen in meinen Augen konnte ich ihn kaum sehen. »Und ob!«
    »Ja«, murmelte Roy. »Das dachte ich mir fast.«
    »Mensch, Roy«, keuchte ich, »mach alles ab! Ich habe das schreckliche Gefühl, wenn du es dranläßt, bleibt es an dir kleben, und dann sehe ich dich nie wieder!«
    Roys rechte Hand zuckte impulsiv nach oben, um seine furchtbare Wange herunterzukratzen.
    »Komisch«, sagte er leise, »mir kommt es auch so vor.«
    »Wieso hast du dir diese Maske überhaupt angetan?«
    »Gleich zwei Beichten? Eine hast du doch eben schon gehört. Noch eine gefällig?«
    »Genau.«
    »Bist du zum Priester geworden?«
    »Ich komme mir allmählich so vor. Soll ich dich exkommunizieren?«
    »Wovon?«
    »Von unserer Freundschaft.«
    Seine Augen suchten meinen Blick.
    »Das
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