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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Autoren: Andrew Miller
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Woran glaubst du? An die Macht der Vernunft …«
    Es ist eine Gewohnheit, die er in den Wochen nach dem Tod seines Vaters angenommen hat, und sie hatte zunächst etwas Trotziges, beinahe Triumphierendes. Er war am Leben, jung und am Leben. Ecce homo! Später jedoch – etwa um die Zeit, als er in den Bergwerken von Valenciennes anfing – schienen die Fragen eher und wahrhafter Fragen zu sein, und zwar solche, die gerade wegen ihrer Einfachheit Anlass zu Augenblicken der Verwirrung, vorübergehenden Schwindelgefühlen gaben, welche die Übung – das Stellen der Fragen – nur um so notwendiger machten. Natürlich sollte er damit aufhören. Es ist kindisch. Ursache heimlicher Verlegenheit, beinahe schon ein Laster. Aber vorderhand, für diese Nacht, an diesem Ort …
    »Wer bist du? Ich bin Jean-Baptiste Baratte. Woher kommst du? Aus Bellême in –«
    Irgendwer oder irgend etwas kratzt am Holz der Tür. Er hält den Atem an, lauscht. Der Kater mit der fragwürdigen Moral? Hat sein Vorgänger das Tier am Fußende des Bettes schlafen lassen? Tja, er selbst hätte auch nichts dagegen, würde sich sogar über die Gesellschaft freuen, aber kaum setzt er sich auf, verstummt das Kratzen. Unter seiner Tür die weiche Bewegung eines Lichts. Dann nichts.

6
     
    IN DER KIRCHE fällt das Licht eines Pariser Morgens in dünnen, grauen Strängen aus hohen Fenstern, ohne jedoch viel gegen die immerwährende Dämmerung im Gebäude auszurichten. Schwarze oder nahezu schwarze Pfeiler erheben sich wie die Überreste eines versteinerten Waldes, ihr oberes Ende verliert sich in Baldachinen aus Schatten. In den Seitenkapellen, wo seit fünf Jahren keine Kerze mehr entzündet worden ist, hat sich die Dunkelheit gleichsam zu Wächten angehäuft. Heilige, Madonnen, Christkinder, sämtliche großen, zweitrangigen Gemälde von Märtyrertod, von Tauben, die auf wohlfrisierten, italienisch anmutenden Köpfen landen, die verschlossenen Reliquiare mit ihren Knöchelchen oder Splittern vom heiligen Kreuz, das alles könnte genausogut nie existiert haben, so gründlich ist es jetzt verborgen.
    Die Orgel (drei Manuale, vierzig Register), von einem Deutschen gebaut und sehr alt, befindet sich am Nordschiff, an der Seite der Kirche, die entlang der Rue aux Fers liegt, wo diese in die Rue Saint-Denis übergeht. Die Tür zur Empore – ungefähr ein Drittel so hoch wie eine normale Haustür – steht offen, und aus ihr kommt, von Husten und Räuspern angekündigt, der Kopf eines Mannes. Er hält dort inne, genau wie ein Hund zögern würde, bevor er ein unsicheres Stück offenen Raum durchquert, dann verschwindet er wieder in der Empore, um einen Moment später von zwei langen Beinen ohne Stiefel abgelöst zu werden, denen ein ausladendes, in eine Hose gezwängtes Hinterteil, dann der Oberkörper und schließlich abermals der zerzauste Kopf folgen.
    Es gibt keine Leiter – irgendwer hat sie als Feuerholz verwendet –, und der Mann rutscht herab, lässt sich von der Tür der Empore heruntergleiten, bis seine Zehen eine behelfsmäßige Stufe aus Gebetbüchern, Bibeln mit rissigen Einbänden und Heiligenleben berühren (er hat Freunden gegenüber schon viele abgeschmackte Witze darüber gemacht, dass er auf der Leiter der Religion in den Himmel der Musik klettere). Auf den Steinplatten des Bodens angelangt – seine Füße stehen auf dem Grab eines Barons Soundso, dessen Frau und mehrerer dahingeschiedener Kinder –, klopft er sich ab, spuckt Ruß in ein Taschentuch, zieht seinen Rock an und setzt sich an den Spieltisch. Er lässt die Knöchel knacken; unterm Dach wird ein fahler Vogel aufgeschreckt und flattert los. Selbst bei diesem Licht zeigt das Haar des Mannes einen leichten Kupferschimmer. Er zieht Register. Trompette, tierce, cromorne, voix humaine. Auf dem Notenpult hat er Gigaults Livre de Musique und daneben ein Heft mit Kantaten von Clérambault, aber um Noten lesen zu können, brauchte er Kerzen, und er macht sich nicht die Mühe, welche anzuzünden. Er hat eine Kerze im Kopf, mehr Licht braucht er nicht, und er beginnt aus dem Gedächtnis ein Trio von Couperin zu spielen, Rückgrat und Hals leicht nach hinten gebogen, als wäre die Orgel eine sechsspännige Kutsche und er preschte mitten durch Les Halles, dass Gänse, Kohlköpfe und alte Frauen auseinanderstieben.
    Es ist kein Geräusch zu hören, nichts als das dumpfe Klacken der Tasten und das Trapsen der Pedale. Er hat keine Luft, obwohl es für Couperin mehr als Luft brauchte – die
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