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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Autoren: Andrew Miller
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von ihm selbst und einem riesenhaften, stummen Jungen getragen, irgendeinem Verwandten der Nachbarn des Postunternehmers, bei denen er gestern nacht abgestiegen ist.
    »Wir haben schon befürchtet, Sie hätten sich verirrt!« ruft Monsieur Monnard leutselig vom oberen Absatz der ersten Treppe aus. »Vollkommen verirrt.«
    »Ich war in Versailles, Monsieur, und dann lahmte das Pferd …«
    »Versailles!« wiederholt Monsieur Monnard, während er zusieht, wie der junge Mann ihm entgegensteigt, dann komplimentiert er ihn in die Halbwärme des Zimmers im ersten Stock. »Monsieur Babette war heute in Versailles.«
    »Baratte, Monsieur.«
    »Wie?«
    »Ich heiße Baratte. Mein Name, Monsieur. Baratte.«
    Man lässt ihn gegenüber von Ziguette Platz nehmen. Es wird kurz darüber diskutiert, ob das Schmorgericht in die Küche zurückgehen soll, während der Neuankömmling seine Suppe isst. Ist die Suppe noch warm genug? Möchte Monsieur Baratte überhaupt Suppe?
    »Und wie war es heute in Versailles?« fragt Monsieur Monnard, als wäre Versailles ein Ort, den er häufiger aufsucht.
    Jean-Baptiste nimmt einen Löffelvoll von der lauwarmen Suppe und stellt fest, dass er Heißhunger hat. Wäre er allein gewesen, hätte er die Suppe vielleicht direkt aus der Schüssel getrunken und sich dann sofort einen Platz zum Schlafen gesucht. Aber das geht nicht, er muss sich Mühe geben, sich beliebt zu machen. Diese Leute werden, zumindest eine Zeitlang, sein intimster Umgang sein. Er will nicht, dass sie ihn für langweilig oder unhöflich, für einen provinziellen Bauerntölpel halten. Will nicht, dass sie glauben, er hätte etwas von dem Menschen, für den er sich in Momenten der Schwäche selbst hält. Er blickt von seiner Suppenschale auf. Was für einen großen, roten Mund das Mädchen hat! Es muss das Fett der Suppe sein, das die Lippen so glänzen lässt. »Versailles«, sagt er und wendet sich an ihren Vater, »ist der seltsamste Ort, den ich jemals gesehen habe.«
    »Eine sehr gute Antwort«, sagt Madame Monnard mit entschiedenem Kopfnicken. Sie fordert Marie auf, dem Gast etwas Wein einzuschenken. »Und noch ein Scheit aufs Feuer, Marie. Ich habe es noch nie erlebt, dass es im Oktober so kalt war.«
     
    Er lernt, dass die Monnards gern reden – eine Art des Redens, die sich stark von den bedächtigeren Rhythmen unterscheidet, mit denen er in Bellême aufgewachsen ist. Außerdem essen sie gern – Suppe, Schmorgericht, gebratene Scholle, Rote-Bete-Salat, Käse, etwas Kuchen. Alles, soweit er es beurteilen kann, richtig zubereitet, doch alles auch mit einer sonderbaren Note, einem Beigeschmack, der, wie er findet, in Speisen nichts verloren hat.
    Nach dem Essen sitzen sie am Kamin. In der kalten Jahreszeit dient der Raum als Wohn- wie als Esszimmer, und er erfüllt diese Aufgaben gut, obwohl das Klavier einen beim Durchqueren des Zimmers jedesmal zu einem kleinen Umweg zwingt. Monsieur Monnard löst mit einer Reihe von Grimassen die Spannung in seinem Gesicht. Die weiblichen Monnards tun so, als nähten sie. Man hört ein Kratzen an der Tür. Eine Katze wird hereingelassen, ein Tier, das genauso groß ist wie der Hund, dem Jean-Baptiste dabei zugesehen hat, wie er vor dem Büro des Ministers auf den Boden pinkelte, ein schwarzer Kater, dem an einem Ohr ein gezackter Halbmond fehlt. Er heißt Ragoût. Die Familie weiß nicht, warum, und kann sich auch nicht darauf einigen, wer ihn so genannt hat. Er kommt geradewegs auf Jean-Baptiste zu und beschnuppert dessen Schuhsohlen.
    »Na, was hast du getrieben, kleiner Bösewicht?« sagt Madame Monnard und lüpft das Tier mit einiger Mühe auf ihren Schoß. »Für seine Moral will ich mich nicht verbürgen«, sagt sie und lacht ausgelassen, dann fügt sie hinzu: »Ragoût und Ziguette sind unzertrennlich.«
    Jean-Baptiste wirft einen Blick auf das Mädchen. Ihm scheint, dass sie den Kater mit einem gewissen Missfallen betrachtet.
    »Die kleinen Herrschaften, die gern Käse essen«, sagt Monsieur Monnard, »überleben in diesem Haus nicht lange.«
    »Was Ragoût nicht erwischt«, sagt Madame Monnard, »fängt mein Mann mit seinen kleinen Maschinen.«
    »Maschinen?« fragt Jean-Baptiste, bei dem das Wort schon immer einen gewissen Kitzel hervorgerufen hat.
    »Ich stelle sie in der Werkstatt her und verkaufe sie«, beginnt Monsieur Monnard. »Ein Käfig, eine Feder, eine kleine Klappe …« Er beschreibt eine Bewegung mit der Hand. »Das Tier ist gefangen. Dann braucht man den Käfig nur
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