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Fremdes Licht

Fremdes Licht

Titel: Fremdes Licht
Autoren: Nancy Kress
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anfassen konnte.
    Jehanna starrte mißmutig in die Dunkelheit. Das war doch
Quatsch – eine Mauer konnte man anfassen. Eine Mauer war eine
Mauer, etwas Handfestes, sonst konnte sie niemanden aufhalten, weder
einen Flüchtling noch einen Eindringling. Doch jelitische
Kundschafter waren keine Delysier; sie logen nicht.
    Und diese Frage weckte all die anderen, die ganzen Vermutungen und
Annahmen darüber, was es mit dieser Mauer auf sich hatte, und
alledem lagen nur die spärlichen Berichte der Kundschafter
zugrunde. Was, wenn die Vermutungen stimmten? Egal, was zählte,
waren die neuartigen Waffen, die es da gab, Waffen, die Jela so
überlegen machen würden wie nie zuvor. Waffen und Gefahren.
Darin waren sich alle Berichte einig.
    Jehanna erstickte das Durcheinander an Gedanken. Erst einmal galt
es, die Mauer zu erreichen. Viel länger durfte die Delysierin
nicht mehr schlafen, oder sie würde erfrieren. Nur eine Schnecke
mußte mitten am Finstertag schlafen, nachdem sie bereits die
ganze Frühnacht durchgeschlafen hatte, ganze zehn Stunden lang!
Das Leuchtfeuer kletterte in den glitzernden Himmel.
Allerdings war es besser, jetzt zu schlafen als in der
Eiseskälte von Drittnacht.
    Das letzte Mal, als Jehanna einen Zyklus in der Savanne verbracht
hatte, da war sie noch in der Ausbildung gewesen, und die
Kriegerinnen, die nicht Wache halten mußten, hatten der
Wärme halber immer dicht beieinander geschlafen. Jamizu war
jetzt in einen Kader aufgenommen worden, und was machten Nahid und
Aischa inzwischen? Die hübsche Aischa…
    Jehanna erstickte auch dieses Durcheinander an Gedanken. Ihre
Aufgabe bestand darin, die Graue Mauer zu erreichen und
durchgelassen zu werden. Das war alles, was jetzt zählte.
     
    Bei Drittnacht drang ihnen die Kälte bis auf die Knochen.
Wolken drängten aus dem Tiefland herauf. Wolken zuvor, bei
Spätlicht, hätten die Dreinacht erwärmt, aber diese
Wolken verdeckten nur die Sterne. Das Land war zerklüftet von
Schluchten und Felsen, es wurde immer unwegsamer, je höher die
Savanne zu den Ausläufern des Gebirges anstieg. Kälte,
Finsternis und Gelände machten ein Vorankommen
unmöglich.
    »Wir machen Feuer«, sagte Jehanna.
    Ayrid sagte nichts; unter der Kapuze des Burnus klapperten ihre
Zähne so heftig, daß Worte im Keim erstickt wurden.
    Schlaf ließ Jehanna nicht zu. Am Feuer erhitzte sie Wasser,
Flußwasser, an dessen Kälte sie sich die Hände und an
dessen Hitze sie sich die Kehle verbrannten, als sie sich zwangen,
davon zu trinken. Das Trinken führte dazu, daß sie
urinieren mußten, eine qualvolle Entblößung bei der
Kälte. Jehanna zerrte Ayrid immer wieder grob auf die
Füße und ließ sie auf der Stelle laufen. Ayrid war
gleich außer Atem; sie zitterte am ganzen Leib, und die
gierigen Atemzüge stachen in der Lunge.
    Das Heulen der Krihunde klang näher als sonst. Mit der einen
Hand richtete Jehanna das Feuer, die andere hatte sie an der
Armbrust. Als sie zum Essen aufforderte, schob Ayrid ihr wortlos
Haferkuchen hin. Jehanna ignorierte die Geste.
    »Be-Be-Bezahlung«, schnatterte Ayrid.
»Be-Be-Be-trachte das als Be-Be-Bezahlung.«
    Jehanna zog eine verächtliche Grimasse. »Bezahlung gibt
es nur bei K-Käufern und Händlern.«
    »Was si-si-sind wir denn?«
    Jehannas Hand schloß sich fester um die Armbrust.
    »Sag das noch mal, D- Delysier, und ich b-bringe dich um. Der
Schu-Schutz eines Kriegers ist nicht k-käuflich. In Delysia
vi-vi-vielleicht, wo alles k-käuflich ist!«
    »Ni-ni-nicht alles«, brachte Ayrid heraus. Sie schlug
die Hände vors Gesicht und wurde geschüttelt. Genau wie bei
diesem irren, heulenden Gelächter, dachte Jehanna.
    Verrückt. Der Tölpel war übergeschnappt.
    Trotz des Auf-der-Stelle-Tretens fühlte Jehanna ihre
Füße nicht mehr, sie schien nur noch Lederstiefel zu
bewegen. Inzwischen hatte der Himmel im Westen aufgeklart. Das Leuchtfeuer hatte den Zenit längst überschritten
– vor Tagen schon, hätte sie schwören können.
Aber immer noch standen die Zwillingssterne nicht tief genug
über dem Horizont, um den Frühmorgen zu signalisieren.
Jehanna hatte sie noch nie untergehen sehen; der Frühmorgen
löschte sie immer aus. »Kann man sehen, wie das Leuchtfeuer untergeht?« hieß eine Redensart in
Jela, mit der man Zwecklosigkeit umschrieb, und das, wie Jehanna zu
Ohren gekommen war, nicht bloß in Jela. Wie war das zu
erklären? Eine jelitische Redensart in Delysia! Diebstahl
natürlich, was sonst.
    Sie wollte nicht neben einem Delysier
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