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Fremden Kind

Fremden Kind

Titel: Fremden Kind
Autoren: A Hollinghurst
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mein Freund.«
    »Lieber Hewitt«, begann der erste Brief vom September 1913, eine Anrede, die im dritten Brief, aus Frankreich, zu »Lieber Harry« übergegangen war. Insgesamt waren es fünf Briefe, der letzte datiert auf den 27. Juni 1916 und unterschrieben mit »Immer Dein Cecil«.
    »Sind die veröffentlicht?«
    »Müsste man nachprüfen.«
    »Ich gehe jede Wette ein, dass sie nicht veröffentlicht sind.« Rob überflog die Briefe so schnell, wie die unleserliche Handschrift es erlaubte. Die Vorstellung, Valance könnte auch mit Hewitt was gehabt haben … Es gab keine Anzeichen dafür, aber das war an sich schon vielsagend. »Und warum hat der alte Kerl sie bloß abgeschrieben? Ich meine: Was hat er mit den Originalen gemacht?«
    »Er hat eben nicht die Bedürfnisse der Buchhändler des einundzwanzigsten Jahrhundert bedacht, ein in der Vergangenheit häufig zu findendes Versäumnis.«
    »Vielen Dank für die Belehrung.« Den letzten Brief sah sich Rob genauer an.
    »So ein Pech, dass Du es nicht zu Stokes geschafft hast – ich glaube, er würde Dir gefallen. Ich wollte Dir meine neuen Gedichte zukommen lassen, bevor der Zirkus hier wieder losgeht – wenn alles klappt, schicke ich sie Dir morgen; ich möchte noch ein letztes Mal drübergehen. Sie sind nur für Deine Augen bestimmt – Du wirst sehen, dass sie zu meinen Lebzeiten nicht veröffentlicht werden können – vielleicht nicht mal zu Lebzeiten Englands! Stokes hat einige davon gelesen (nicht alle). Eins bezieht sich, wie Du feststellen wirst, auf unser letztes Treffen. Gib mir Bescheid, wenn sie sicher angekommen sind. Alles Liebe (ist das zu frech?) an Elspeth, die strenge Wissenschaftlerin.
    Immer Dein Cecil.«
    »Und das Haus ist wirklich völlig leer geräumt?«
    »Diese Woche werden die letzten Sachen rausgeholt.«
    »Was für Sachen?« Rob meinte zu erkennen, dass Raymond hinter seinem Bart rot wurde, als er sich jetzt abwandte und auf seinem Schreibtisch herumkramte – es war ein Ablenkungsmanöver, obwohl Rob zuerst dachte, Raymond suche nur nach weiteren Belegen.
    »Ich selbst war nicht da. Ich glaube, Debbie ist jetzt vor Ort.«
    »Warum hast du das nicht gleich gesagt?« Der gemächlich dahinziehende Nachmittag, die leicht hypnotisierende Herbst stimmung in Nordlondon, die muffige Weltfremdheit von Chadwicks Laden, all das offenbarte sich Rob auf einmal als Falle, eine katastrophale Zeitverschwendung, so wie erdrückende Hindernisse und Umwege in bestimmten Träumen. »Wie weit ist es von hier zu dem Haus?«
    »Wie willst du hinkommen?«
    Ein Stück die Straße hinunter, Richtung Schule, war ein Taxistand, als stünden die Wagen dort bereit, die Jungen nach dem Unterricht nach Hause zu befördern, zu den Geschäften, zum Flughafen … Rob winkte dem ersten Taxi in der Reihe, doch es war kein Fahrer zu sehen: Er holte sich einen Tee und ein Sandwich in einem Café gegenüber, und der zweite Fahrer in der Reihe hätte ums Verrecken nicht die Fuhre seines Kollegen übernommen – eherne Regel der Fuhrleute. Rob spürte, dass sein Drängen abstoßend wirkte, es war wie ein Zeichen, dass man sich mit ihm nur Ärger einhandelte. Ungeduldig grinsend ging er hinüber zum Café, und nach einer Minute folgte ihm der Fahrer nach draußen zu seinem Taxi. »Das Haus heißt Mattocks, war mal ein Altersheim. Kennen Sie es?«
    »Von früher, ja«, sagte der Fahrer träge, selbstgefällig in seiner eigenen Ironie. »Heute ist da nicht mehr viel los.«
    »Ja, ich weiß.«
    »Da kann jederzeit die Abrissbirne anrücken.« Er musterte Rob im Spiegel, als er auf seinen Sitz glitt, und legte sich schon seinen nächsten flachen Witz zurecht.
    »Wenn wir uns beeilen, kommen wir der Birne vielleicht noch zuvor«, sagte Rob und beugte sich anbiedernd vor. Er sah seine Nase und seine Augen im Spiegel wie Fragmente einer surrealistischen Collage.
    Sie wendeten und fuhren Richtung Norden über die am schlimmsten verstopften Kreuzungen von Harrow-on-the- Hill, und der Fahrer bedachte jeden unentschlossenen Straßen überquerer, rückwärts ausparkenden Lastwagen und zaghaften Links- oder Rechtsabbieger aus Querstraßen mit seiner Rücksichtnahme; er war ein großzügiger Vorfahrtgewährer. Sein gemütliches Flaniertempo im zweiten Gang durch die belaubten Wohnstraßen und -zeilen von Weald nährte den Verdacht, dass er sich nicht auskannte. Er machte Witze über irgendetwas, was Rob offenbar überhört hatte. »Wie bitte?«, fragte er, doch dann sah er, dass der Fahrer
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