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Fremde Federn

Fremde Federn

Titel: Fremde Federn
Autoren: Unbekannter Autor
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können, wo es warm und hell war. Hier kam nur Licht von ihrer Taschenlampe, deren schmaler Strahl den Boden traf. Aber sie machte sie bald aus. Als sie nach rechts schaute, wo der hölzerne Promenadensteg sich über die Kanäle wand, fiel ihr ein, wie sehr sie Wasser haßte. Schon immer gehaßt hatte, seit man sie als kleines Gör mal in der Wanne allein gelassen hatte und sie fast ertrunken wäre. Ihre winzigen Hände hatten an dem glatten Emaille keinen Halt gefunden - selbst jetzt noch wurde ihr bei dem bloßen Gedanken daran übel. Als sie mit ihrer Familie dann jeden Sommer nach Skegness fuhr, näherte sie sich dem Meer nie weiter als bis zur Hälfte des Strandes. Dort ließ sie sich mit ihrem geheimen Schatz an Filmillustrierten und Liebesromanen nieder. Die Schutzumschläge ersetzte sie durch andere, und als Jane Eyre, Adam Bede oder David Copperfield verkleidet, bildeten sie eine unterhaltsame Lektüre. Mum und Da dachten, sie läse die englischen Klassiker. »Na, tuste was für deine Bildung, Dorcas? Brav, aber werd nicht zu schlau! Sonst kriegst du keinen Job, der dich ernährt. Haha«, sagte ihr Vater immer. Gewöhnlich nicht gerade ein Spaßvogel, ihr Da, aber wenigstens nervte er nicht dauernd wie die Väter ihrer Freundinnen.
    David Copperfield hatte sie in der zehnten Klasse sogar fast ganz gelesen. Ihre Mitschüler hatten sich vor allem auf die Worte gestürzt, die der maulfaule Fuhrmann Barkis dem Copperfieldschen Dienstmädchen Peggotty als Heiratsantrag zukommen läßt: »Barkis will.« Den Satz riefen sie nun Dorcas, die schon mit dreizehn kein unbescholtenes Blatt mehr gewesen war, in einer revidierten Fassung hinterher: »Dorcas will! Dorcas will!« Sie tat so, als sei ihr das völlig schnuppe, aber der Spott tat weh, und ihr Ruf wurde immer schlimmer. Daß sie tatsächlich »wollte«, lag daran, daß sie nicht hübsch war, nur ihre »Willigkeit« machte sie attraktiv. Es hatte sich in der Schule wie ein Lauffeuer verbreitet. Dorcas haßte Charles Dickens.
    Seit mehr als zwanzig Jahren nun kämpfte sie insgeheim mit ihrem Aussehen. Auf nichts, aber auch gar nichts, konnte sie stolz sein. Außer vielleicht auf ihre Zähne, aber erzählte ein Mann einer Frau, daß er ihre Zähne liebte? Höchst unwahrscheinlich. Ihr Haar war rostrot und drahtig wie die Topfkratzer, die sie zum Abwaschen benutzte. Nur die reichlich sprießenden Sommersprossen verliehen ihrem Gesicht etwas Farbe. Und ihre Figur glich das Gesicht auch nicht aus. Wenn sie auf dem warmen Sand von Skegness lag, wurde ihr peinlich bewußt, daß ihr Lycrabadeanzug eng wie ein Hüfthalter saß und man die Furchen und Wülste um ihre Taille sah.
    Zumindest konnte Da ihr nicht vorwerfen, daß sie faul war. Sie hatte immerhin zwei Jobs, den im Haus und den im Pub. Wenn er natürlich gewußt hätte, warum, na, da hätte er aber ganz schön geguckt. Sie hatte bereits ihr »Weggeh«-Outfit erstanden: ein goldbraunes Waschseidenkostüm. Da wirkten ihre Augen ein wenig honigfarben, nicht einfach nur braun, ja schlimmer als braun, schlickbraun, schlammbraun.
    Als sie über den Weg stakste - sie hätte diese Schuhe nie anziehen dürfen -, wurde ihr die Bürde ihres unscheinbaren Äußeren ein wenig leichter, denn letztendlich hatte es ihr nicht geschadet, es war unwichtig. Sie hatte jemanden gefunden, der ihre innere Schönheit sah. Die besaß sie reichlich, davon war sie immer überzeugt gewesen.
    Sie ging die paar Stufen des Besucherzentrums hinauf. Ihre Füße taten höllisch weh. Oben angekommen, zog sie die Pumps aus und schlug den Schmutz ab. Mit den in Händen baumelnden Schuhen stand sie da, schaute hinaus auf das Wyndham Fen und seufzte. Sehr geschichtsträchtig. Sie konnte allerdings keinerlei Begeisterung dafür aufbringen. Damals in der zehnten Klasse hatten sie sich einen stinklangweiligen Vortrag über die Trockenlegung der Fens anhören müssen und tausend öde Einzelheiten über die flachen Ebenen. Interessierte das denn wirklich jemanden außer den Leuten, die hier Kilometer um Kilometer Tulpen und Narzissen anbauten?
    Da stierte sie nun hinaus auf das dunkle Wynd-ham Fen, wie es vor hundert Jahren ausgesehen hatte. Oder vor tausend? Wie konnte ein Mensch die vielen Daten und Ereignisse behalten? Die Fens waren alle trockengelegt worden - von wem, wußte sie nicht so genau, vielleicht von den Wikingern? Nein, das war zu lange her. Von diesem dämlichen Holländer, Vanderbilt? Nein, das war der amerikanische Milliardär. Vander ...
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