Fremde Federn
betrachtete eine winzige weiße Blume, ein klitzekleines Glöckchen von Blume. Ein Schneeglöckchen? Der Name paßte. Etwas später fuhr er mit dem Finger an einer Ranke entlang, die ihre tentakelähnlichen Wurzeln an einem Baum hochtrieb. Efeu? War es ja meistens, also beließ er es dabei und brütete wieder über Jurys bevorstehenden Besuch nach.
Da hörte er, wie jemand in der dämmrigen Ferne seinen Namen brüllte: »Melrose!« Agatha! Sie kam wie üblich zum Tee. In ihrer Geschicklichkeit, Informationen auszuschnüffeln, durfte man seine Tante nicht unterschätzen. Das hatte er schon vor langer Zeit gelernt. Doch sein Butler Ruthven war gegen Hinterlist, Drohungen und Lügen gefeit, und bei ihm war Melrose' augenblicklicher Aufenthaltsort wohlverwahrt. Hatte sie Momadays Hilfe in Anspruch genommen?
Wieder knallte ein Schuß.
Eines Tages würde dieser Kerl noch jemanden erschießen.
Was für eine hübsche Vorstellung!
Nachdem Ruthven das Zeichen gegeben hatte, daß die Luft rein war (wozu der alte Dinnergong betätigt wurde), nahm Melrose wieder im Salon bei Portwein und Walnüssen Platz. Er hatte ja sowieso schon bedauert, daß er sich absentiert hatte. Agatha hatte währenddessen mehr als eine Nachricht hinterlassen. Er ignorierte alle.
Sein momentanes Interesse galt ausschließlich Richard Jurys Besuch und dem Thema Jenny Kenning-ton. Er fühlte sich wegen des Treffens in Stonington richtiggehend schuldig, obwohl es so harmlos gewesen war. Außerdem hatte er Polly Praed, die er jahrelang nicht gesehen hatte, ziemlich abrupt abgefertigt. Er seufzte. War er so einer geworden? Machte er jeder gutaussehenden Frau schöne Augen, flatterte von einer zur anderen wie eine Biene oder ein Schmetterling? Grämlich zupfte er an der Papierserviette neben dem Walnußschälchen. Schließlich griff er zum Füllfederhalter, faltete die Serviette auseinander und schrieb eine Namensliste:
Vivian Rivington -Polly Praed -Ellen Taylor -Jenny Kennington -Miss Fludd (Nancy) -
Er klopfte mit dem Füller auf die Unterlage, überlegte einen Augenblick und fügte dann »Bea Slo-cum« hinzu. Die Feder blieb hängen, als er Klammern um Jennys Namen malte. Sie gehörte nicht auf seine Liste. Auch Bea Slocum nicht, recht bedacht. Er hatte ihren Namen ja auch sehr klein geschrieben. Sie war viel zu jung für ihn. Nach einem letzten Blick auf Jennys Namen strich er ihn widerstrebend durch.
Rechts auf die Serviette schrieb er »Bemerkungen«. Das war doch immer noch am besten. Eine Liste anlegen und das Für und Wider notieren. Angeblich half einem das, den Kopf klar zu kriegen und die Dinge in der richtigen Perspektive zu sehen. Nun stützte er aber erst mal den Kopf auf die Hand und überlegte angestrengt, was er für (oder gegen) Vivian aufschreiben sollte. Ihm fiel nur Graf Dracula ein, ihr Verlobter. Dann versiegte seine Vorstellungskraft. Er war jedoch so konzentriert, daß er die sich nähernden Schritte nicht hörte und von Ruthvens Stimme überrascht wurde.
»Superintendent Jury, Sir«, sagte Ruthven von der Tür her.
Bei Jurys Eintritt blickte Melrose auf. Obwohl er immer noch nicht wußte, was er sagen sollte, war er entzückt, ihn zu sehen. »Richard!« Sie schüttelten sich die Hände. »Ja ... wie geht's Ihnen denn bloß?«
»So lala.«
»Herrgott, ich habe Sie ja ewig nicht gesehen.«
Jury zog eine Braue in die Höhe. »Zwei Wochen?«
»Äh, hm, es kommt mir so lang vor. Ruthven soll Ihnen was zu trinken holen. Setzen Sie sich.«
Jury bat Ruthven um einen Whisky und setzte sich Melrose gegenüber.
Woraufhin Melrose Ruthven bat, die Karaffe zu füllen, damit sie ihn nicht weiter bemühen müßten. Er lehnte sich zurück und gab sich der Hoffnung hin, daß das Thema Jenny nicht angesprochen werden würde. Idiotisch. Wie sollte man es denn vermeiden? Sie war die Hauptverdächtige in einem Mordfall!
Aber Jury schien sich mehr für die Papierserviette zu interessieren, die Melrose auf dem Tisch hatte liegenlassen, nachdem er Kondenswassertröpfchen damit aufgewischt hatte. »Nanu, was ist denn das?«
»Eine Liste.« Seine Hand schoß, vor, aber Jury war schneller.
»Ich glaube, ich kenne ein paar von diesen Damen«, sagte Jury, ohne eine Miene zu verziehen. »Miss Fludd allerdings nicht. Die kenne ich nicht.«
Gott sei Dank, wenigstens dieses Thema war unverfänglich. Melrose atmete tief durch. »Eine Nachbarin. Sie erinnern sich doch an Watermeadows -« Er brach ab. Watermeadows war mit einer besonders
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