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Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau
Autoren: Christoph Hein
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befiel und beflügelte, die Furcht vor der unberührten Leinwand, all das war der Gewöhnung gewichen. Ich spürte, dass es mich am Morgen nicht mehr ins Atelier zog, dass mich meine eigenen Arbeiten nicht mehr erregten. Auch die Eröffnungsreden bei einer Vernissage ermüdeten mich, die freundlichen Worte erschienen mir beliebig und verlogen. Das hohe Lob, mit dem mich der Redner pflichtgemäß zu überhäufen hatte, war mir peinlich und langweilte mich. Als Frau Dickert sagte, wie viel Kraft es sie kosten würde, frühmorgens aufzustehen, hatte ich unwillkürlich genickt, es ging mir eigentlich nicht anders.
    Jetzt, wo ich allein war, war der Flügel das Kostbarste in meinem Leben. Ich spielte nach wie vor jeden Tag zwei Stunden, ich musste mich zwingen, nicht aus dem Atelier wegzulaufen und mich an das Instrument zu setzen. Dabei wusste ich, dass ich mich selbst betrog, denn ich spielte schlecht, doch mir gefiel es, am Flügel konnte ich mich geradezu in einen Rausch hineinsteigern.
    Zwei Monate vor dem Abitur zog Michael bei Kathi aus, er hatte eine winzige Wohnung gefunden, in der er mit Melanie einzog. Er teilte es mir am Telefon mit. Melanie und er hatten einen Studienplatz bekommen, er wollte Jura studieren, Melanie Politikwissenschaft, beide hätten sie bereits kleine Jobs, ich müsse mir keine Gedanken machen. Ich bat ihn, mich zu besuchen. Komm mit Melanie zu mir, sagte ich, und er versprach es, wusste aber nicht, wann. Sein Abitur feierten wir in Berlin. Zwei Tage später brach er mit seiner Freundin zu einer kleinen Weltreise auf, sie wollten erst in fünf Monaten zurück sein, zum Studienbeginn. Ich wäre also den ganzen Sommer über allein.
    »Einverstanden, Mama?«, fragte er. Doch es war keine Frage, es sollte ein Trost sein.
    »Wunderbar«, sagte ich, »dann kann ich endlich in Ruhe arbeiten.«
    Für mich hatten sich wieder ein paar Ausstellungen ergeben, und ich verkaufte auch einige Bilder. Ich bekam sogar einen Auftrag für ein Buch, Illustrationen für einen Roman in einem winzigen Verlag, der mir nur so wenig bezahlen wollte, dass ich weiterhin Sozialhilfe beantragen musste. Die Schulden, die ich bei Kathi hatte, konnte ich trotz allem nach und nach zurückzahlen. Ich war erleichtert, als ich endlich wieder schuldenfrei war.
    Michael und Melanie waren recht erfolgreich in ihrem Studium. Schon im zweiten Jahr konnte Michael zeitweise in einer Kanzlei arbeiten, und Melanie reiste mit einem ihrer Professoren zu Kongressen in alle möglichen Länder. Wir telefonierten viel, denn sie hatten nicht die Zeit, zu mir zu kommen, und ich wollte sie nicht besuchen, ich wollte ihnen nicht zur Last fallen.
    Ich hatte eigentlich nur noch Kathi. Sie war und blieb die verlässliche Freundin. Wann immer ich zu ihr fuhr oder sie zu mir herauskam, waren es gute Tage für mich. Selbst die Kopfschmerzen, unter denen ich in den letzten Jahren litt, waren dann nur noch ein schmerzloses weißes Rauschen.
18.
    In ihrem achten Semester heirateten Michael und Melanie. Es gab eine große Feier, die ihre Eltern ausrichteten, und zur Hochzeit bekamen sie von Melanies Vater eine Eigentumswohnung geschenkt. Nun waren die beiden völlig unabhängig und hatten mit sich und der Wohnung undihrem Studium zu tun. Zudem mussten sie, wie sie mir erklärten, Kontakte pflegen, sie wollten nach dem Studium unbedingt für drei Jahre in die Vereinigten Staaten, um zusätzliche Abschlüsse zu schaffen. Ich sah sie nur selten, wir trafen uns, wenn ich Kathi in Berlin besuchte. Manchmal ging ich zu ihrer Wohnung, manchmal trafen wir uns in einem Lokal. Es war immer schön, die beiden zu sehen. Sie turtelten miteinander, ich war froh, dass mein Sohn glücklich war, und das sagte ich ihnen auch.
    »Und was ist mit dir, Mama?«, fragte Michael. »Willst du in Kietz bleiben? Das ist nicht gut für dich. Du solltest da draußen nicht allein leben. Irgendetwas solltest du ändern. Ich hatte gehofft, du findest jemanden. Einen wie Heinrich, der war doch ganz in Ordnung. Oder zieh mit Kathi zusammen. Es gefällt mir nicht, dass du allein in dieser Wildnis haust. Du bist doch keine alte Frau. Mach was aus deinem Leben.«
    »Genau das habe ich vor, mein Junge.«
    »Was hast du vor?«
    »Mein Leben ändern. Ich suche mir noch eine große Herausforderung. Ich sollte vielleicht den Himalaja besteigen. Oder eine Expedition in die Tiefsee mitmachen.«
    »Ich habe es ernst gemeint, Mama.«
    »Das ist mir schon klar. Und ich meine es auch ganz ernst. – Was
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