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Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau
Autoren: Christoph Hein
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verabschiedete sie sich von mir und verließ das Café. Beim Hinausgehen erinnerte sie mich an jene Person, die ich einmal war.
    Wir wollten in Leipzig noch eine neue Hose für Michael kaufen und gingen durch mehrere Geschäfte. Als ich mich danach eine halbe Stunde im Künstlerbedarf umsah, begleitete mich der Junge geduldig. Wir sprachen nicht über Cordula, wir vermieden es, über das Treffen zu reden. Erst als wir wieder in der Bahn saßen und jeder von uns minutenlang auf die vorbeigleitende Landschaft starrte, und wir wohl beide an Cordula dachten, kamen wir darauf zu sprechen. Michael war es, der den ersten Satz sagte.
    »Was hast du denn erwartet, Mama? Mitleid?«
    Er sagte es zärtlich, ganz so, als wisse er, wie es um mich bestellt war. Ich schaute ihn verwundert an. Ich war sehr glücklich, dass er mitgekommen war und mir jetzt gegenübersaß.
    »Ich weiß nicht«, antwortete ich, »vielleicht. Nein, eigentlich wollte ich sie nur einmal wiedersehen. Und ich wollte, dass ihr euch kennenlernt. Ich hatte gehofft, wir könnten miteinander sprechen, aber das wird wohl für alle Zeit unmöglich sein.«
    »Ich hätte gern eine Schwester gehabt. Oder einen großen Bruder.«
    »Ich weiß.«
    Wir fuhren nach Berlin, weil ich mich wegen Michaels Umschulung nochmals im Gymnasium melden musste. Kathi war umgezogen und besaß nun eine geräumigeAltbauwohnung, in der sie bereits ein Zimmer für ihn reserviert hatte. Wir übernachteten bei Kathi, meldeten uns am nächsten Morgen im Sekretariat des Gymnasiums, konnten mit der Direktorin kurz sprechen und fuhren erst am Nachmittag mit unserem Auto nach Hause.

    Am folgenden Samstag kamen meine Eltern zu uns, ich holte sie mit dem Auto von der Bahn ab. Ich war fest entschlossen, keinerlei Unverschämtheiten meines Vaters hinzunehmen, doch als sie aus dem Zug stiegen, schrak ich zusammen. Zwei hilflose Personen kletterten mühsam aus dem Waggon und suchten ängstlich den Bahnsteig ab, weil sie mich nicht sofort sahen. Sie waren alt geworden, sehr alt. Vater sprach die ganze Zeit sehr wenig, und Mutter erzählte ununterbrochen über seine vielen Beschwerden. Die beiden versuchten, mit ihrem Enkel ins Gespräch zu kommen, hatten ihm eine ganze Tasche voller Geschenke mitgebracht, doch Michael blieb einsilbig und war nicht bereit, sie zu umarmen. Irgendwann verlangte Vater, Mutter solle ihm seine Strickjacke holen, und sie sagte, die Jacke habe sie nicht mitgenommen. Für Sekunden sah uns Vater irritiert an, erst danach wurde ihm wieder deutlich, dass er nicht in seinem Haus war, sondern bei mir zu Besuch. Er war verwirrt, vielleicht waren es die ersten Anzeichen einer Demenz. Ich tat, als ob ich nichts bemerkt hätte, und vermied ein Gespräch unter vier Augen mit Mutter. Ich wollte davon nichts wissen, und ich konnte ihnen nicht helfen. Am Abend desselben Tages brachte ich sie wieder zur Bahn und half ihnen die Stufen hinauf. Michael war nicht mitgekommen, er hatte noch für die Schule zu tun.
    Als ich wieder daheim war, fragte er mich, warum meine Eltern eigentlich zu uns gekommen seien.
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »keine Ahnung.«
16.
    Sie verließ den Weg und rannte über die ausgetrocknete, verdorrte Köhlerwiese und über die schmale Holzbrücke, die über die Bleiche führte, einen winzigen Bach, mit so wenig Wasser, dass er in jedem Winter zufror. Auf der anderen Seite des Baches begann der Wald. Paula setzte sich auf eine der Bänke, die rings um eine Lichtung standen, und sah zu ihrem Haus hinüber, das nun ganz klein und in der Reihe der Nachbarhäuser anheimelnd wirkte. Aber sie wusste, dass die Eltern darin sich weiter beschimpften, und unwillkürlich legte sie die Hände über die Ohren, obwohl aus dieser Entfernung ihre Stimmen nicht zu hören waren.
    Plötzlich durchzuckte sie etwas Unheimliches, und sie wandte langsam den Kopf. Auf einer gegenüberliegenden Bank saß ein Mann, er hielt einen Zeichenblock auf den Knien und zeichnete. In einer ersten Regung wollte sie aufstehen und wegrennen, aber dann sah sie, dass es kein Nachbar war, sondern ein Unbekannter, der nichts von dem Streit der Eltern gehört haben konnte, und so blieb sie sitzen. Der Mann schaute immer wieder hoch, beugte sich dann über das Blatt und begann, heftig zu stricheln. Offensichtlich zeichnete er den Bach, die Köhlerwiese und die Hausreihe der Waldsängerallee. Auf dem rechten Bildrand schien ein Stück vom Wald gezeichnet zu werden, und die Bank, auf der Paula saß, musste sich
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