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Frau Paula Trousseau

Frau Paula Trousseau

Titel: Frau Paula Trousseau
Autoren: Christoph Hein
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trennen würde, wir waren dennoch Mutter und Tochter. Ich wollte sie sehen, weil ich mich bei jedem Gedanken an sie schämte, weil die Erinnerung an Cordula mich quälte. Und ich hatte die Hoffnung, eine ganz kleine, winzige, unaussprechbare Hoffnung, dass wir nun ein Verhältnis miteinander aufbauen könnten.
    Cordula antwortete nicht auf meine Briefe, den Telefonhörer legte sie wortlos auf. Ich ließ mich nicht entmutigen, ich versuchte es immer wieder, und endlich willigte sie ein, mich zu treffen. Sie wollte nicht zu mir kommen und mich auch nicht in Berlin sehen, sie verlangte, dass wir uns in einem Café der Leipziger Innenstadt treffen.Ich war darauf vorbereitet, dass sie mich beschimpfen und beleidigen würde, das war ihr gutes Recht.
    Der Termin, den sie für das Treffen vorschlug, war mein Geburtstag. Ich weiß nicht, ob Cordula es wusste, doch ich sagte umgehend zu, obwohl sich für diesen Tag meine Eltern zu einem Besuch in Kietz angesagt hatten. Meine Eltern hatten mich noch nie in meinem Haus besucht. Ich bat sie, ihren Besuch um eine Woche zu verschieben, ich schrieb ihnen nichts von Cordula.
    Zu dem Treffen mit Cordula hatte ich Michael mitgenommen, damit er seine Schwester kennenlerne, aber auch, weil ich Angst hatte. Er war alt genug, um alles verstehen zu können, und er sollte alles wissen, selbst das, was schmerzlich und peinigend für mich war. Cordula gehörte wie er zu meinem Leben, und zu meinem Leben gehörte, dass ich sie verlassen, dass ich sie verraten hatte. Ich konnte nichts mehr korrigieren.
    Wir trafen Cordula in einem Café am Neumarkt. Sie ließ uns eine halbe Stunde warten. Ich war nervös, ich fürchtete, sie säße bereits an einem Tisch und ich hätte sie nicht erkannt. Als sie jedoch durch die Tür kam, war ich mir keinen einzigen Moment unsicher. Ich stand auf, ging auf sie zu und begrüßte sie. Sie war zwanzig Jahre alt und eine schöne junge Frau, sie war ein paar Zentimeter größer als ich und erschien mir sehr selbstbewusst. In den ersten Minuten, die wir zusammen am Tisch saßen, sprach nur ich. Cordula und Michael sahen sich an, sagten aber nichts und schienen mir zuzuhören. Ich redete und redete, ich redete mir alles von der Seele, sprach von meiner Schuld und meinem Unglück. Ich sagte ihr all das, was ich mir in den Tagen und Wochen und auf der Reise zu ihr überlegt hatte. Dann machte ich eine Pause und wartete darauf, dass sie etwas sagte. Ich wartete auf den Schuldspruch.
    Cordula sah mich mit ihren hellblauen und leuchtend klaren Augen eisig an, sie musterte mich auf eine Art, dass es mir wehtat.
    »Ja, und nun?«, fragte sie. »Was soll ich dazu sagen? Was, glauben Sie, könnte ich Ihnen darauf antworten?«
    Dass sie mich siezte, war die heftigste Ohrfeige, die sie mir an diesem Nachmittag verpasste. Ich setzte noch einmal an, aber als mir bewusst wurde, dass ich mich im Kreise drehte, verstummte ich und sah sie an. Sie hielt meinem Blick stand. Sie hatte keine Fragen, sie wollte nichts von mir hören, und es gab nichts, was sie mir mitzuteilen hatte, keine Klage, keinen Vorwurf und schon gar kein Verzeihen. Ich war nicht ihre Mutter, und sie war nicht meine Tochter. Wir waren Fremde, die sich nichts zu sagen hatten.
    »Nichts«, sagte ich, »du musst gar nichts sagen. Ich wollte dir etwas erklären, darum bin ich gekommen.«
    »Erklären? Was denn?«, fragte sie sarkastisch, »dass das Leben kompliziert ist? Dass nichts so ist, wie es den Anschein hat? Danke, das weiß ich schon.«
    »Vielleicht kann ich es aufschreiben, Cordula? Falls du daran Interesse hast, schreibe ich für dich auf, so wie es war. Wie ich es erlebt habe.«
    Sie zuckte mit den Schultern und warf mir nur einen kurzen Blick zu, einen Blick voll Spott oder Mitleid.
    »Und was machst du?«, erkundigte sie sich dann bei Michael und hörte sich schweigend an, was er ihr aufgeregt mitteilte. Sie schien an dem Jungen interessiert zu sein oder wollte sich sein Gesicht einprägen, jedenfalls war nun bei ihr der Anflug eines Lächelns zu erkennen.
    »Sehr schön«, sagte sie. »Schön, dass wir uns einmal kennenlernen. Wir beide sind schließlich irgendwie verwandt.«
    »Du bist meine Schwester«, sagte Michael verlegen.
    »Ja. Merkwürdig, nicht wahr? Aber ich habe noch einen kleinen Bruder. Der ist ein bisschen älter als du, er ist siebzehn.«
    »Vielleicht sehen wir uns mal wieder«, sagte sie zu Michael, stand auf und strich ihm über die Haare. Mit einem winzigen, kaum wahrnehmbaren Nicken
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