Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Autoren: Dorinde van Oort
Vom Netzwerk:
miteinander, und da sah ich deutlich meinen Fehler: Ich war dabei gewesen, Risse in einer anderen Familie zu verursachen. Zum Glück konnten wir das später voneinander begreifen   …Als ich später mal mit einem Pfarrer sprach (ein älterer, sehr feiner Mensch), sagte ich, dass die Strafe, die uns trifft, doch oft verteufelt hart ausfallen könne. Da musste er herzhaft lachen: Ach, meine liebe Frau   … Strafe? Wenn wir an eine Strafe glauben sollten, dann würde kein einziger Mensch mehr auf zwei Beinen herumlaufen. Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein! Das Leben ist voller »Warum«, wir werden es nie begreifen   …
     
    Ich hatte damals angenommen, dass sich das alles auf ihre Ehe mit meinem Großvater bezog. Die Vermutung, dass Annetje ihn meiner echten Oma Pij – der Mutter meines Vaters – ausgespannt haben könnte, war also nicht völlig neu. Ich hatte sie nie nach Einzelheiten gefragt, hatte damals genug mit meinen eigenen Problemen zu tun. Aber die Risse in einer Familie? Mein Vater war 1939 schon achtzehn. Und er hatte für seine Mutter nie ein freundliches Wort übrig.
    Sie musste also wohl das Jahr 1916 und die arme Frau Oud gemeint haben.
     
    Ich blätterte Oma Annetjes Fotoalbum durch auf der Suche nach weiteren Hinweisen. Ich fand keine. Im Gegenteil: Wenn ›Willem‹ wirklich Oma Annetjes Sohn war, geboren am 17.   Februar 1916, dann saß sie kaum zwei Monate später auf einem Foto wieder fröhlich und wohlauf zwischen ihren frisch diplomierten Mitschwestern auf dem Rasen vor dem Wilhelmina-Hospital.
    Die übrigen Krankenhausschnappschüsse? Kein einziger Mann drauf zu sehen. Die Fotos aus ihren Jahren als Wochenpflegerin? Dasselbe. Dann folgten die
Roaring Twenties
, als sie mit Oud am Overtoom wohnte: Oma Annetje neben einer offenen Limousine, in einem eleganten langen Kleid mit Spitzen. Oma Annetje mit Oud, gemeinsam über den Overtoom schreitend, mit Hut, in einem eleganten Kostüm und hochhackigenSchuhen. Oma Annetje neben Oud auf einer Vergnügungsjacht, im weißen Matrosenkleid. Oma Annetje am Strand, mit dem Rücken zum Meer, die Augen im Schatten unter ihrem Sonnenhut, inmitten der sommerlich gekleideten großen und kleinen Ouds: Scheveningen, 1920.
    DAS DATUM ERZÄHLT DIE WAHRHEIT , schrie es mir zu. Meine Neugier war nicht mehr zu bändigen. Was hielt das schöne Gesicht mit den traurigen Augen noch für Geheimnisse verborgen? Ich kippte die Schachtel mit Briefen auf meinen Schreibtisch und fing an, sie nach Datum zu ordnen. Ich suchte das Jahr 1915 – das Jahr, in dem sie schwanger geworden sein musste. Ich fand nur einen Brief, vom Sommer 1915, in dem eine gewisse Schwester Van der Wal aus dem Wilhelmina-Hospital ihrer jungen Kollegin alles Gute wünschte:
     
    Liebe Schwester Beets, danke für Ihren freundlichen Brief. Es tat mir leid, dass wir uns nicht mehr gesehen haben. Doch hoffe ich sehr, noch persönlich von Ihnen Abschied nehmen zu können. Sehen Sie zu, dass Sie schnell wieder auf den Damm kommen, damit Sie auf jeden Fall vor dem Kreißsaal und Ihrer Prüfung wieder zurück sind. Es wäre schade, wenn Sie das nicht schafften. Wenn Sie wieder ordentlich zu Kräften gekommen sind und Ihnen der Sinn wieder nach Arbeit steht, kommt Ihnen das Diplom bestimmt sehr zustatten.
    Also, Mädel, nur Mut, lassen Sie sich nicht allzu sehr niederdrücken, durch Mattigkeit und vielleicht Misère, was weiß ich. Lassen Sie sich nicht hängen, arbeiten Sie sich mit aller Kraft wieder hoch, Sie sind noch so jung.
     
    Oma Annetjes Kommentar auf dem Umschlag lautete:
Von meiner Oberschwester, einer sehr besonderen Frau. Bin krank geworden, überarbeitet. Meine Schwester Vera war wieder meine Zuflucht. Zum Glück kurz vor meiner Prüfung wieder auf dem Posten.
    Die Prüfung? Das musste dann im März 1916 gewesen sein.
    ›Misère, was weiß ich‹: Dann war Annetje also tatsächlich schwanger gewesen! Von dem alten Oud, der sie vielleicht zur Abtreibung gedrängt hat? Der sich später, als seine Frau von der Bühne verschwunden war, um sie gekümmert hat – aus Liebe oder vielleicht auch aus Mitleid. Der sie bei seinem Tod so großzügig bedacht hat – aus einem Schuldgefühl, weil sie sein Kind hatte wegmachen lassen und er sie dazu gebracht hatte?
    War Vosseveld also mit Blutgeld gekauft worden?
    Oma Annetjes Leben, so schien es, war doch ein Stück interessanter gewesen, als ich immer gedacht hatte. Sie war keine wirkliche
Éminence
im strengen Sinne des Wortes gewesen,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher