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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Autoren: Dorinde van Oort
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Vierteljahrhundert älter gewesen als Oma Annetje und hatte drei Söhne in ihrem Alter gehabt. Das Foto – wenn es ihn darstellte – musste aus seinen jüngeren Jahren stammen.
    Ich suchte die Umschläge zusammen, die H.   C.   Ouds Briefkopf trugen.
    Auf den ersten, abgestempelt 20.   März 1919, hatte Oma Annetje geschrieben:
Das war der Anfang von allem. Ich glaube, ich lehnte aus einer Art Vorahnung ab.
    Tatsächlich war Oma Annetje   – Onkel Henk hatte es richtig behalten – im Jahr 1919 bei dem alten Herrn Oud eingezogen und geblieben. Aber das konnte nie und nimmer der wirkliche Anfang gewesen sein. Wenn ›Willem‹ sein Kind und Oma Annetje die Mutter war, mussten sie sich schon einige Jahre früher begegnet sein. Der Inhalt des Briefes bestätigte meine Vermutung:
     
    Geehrte Schwester Beets, herzlichen Dank für Ihren lieben Brief. Wie sehr haben wir es bedauert, dass Sie uns nicht helfen konnten. Meine Frau ist mehr als überspannt und musste sich einer Ruhekur unterziehen. Hätten Sie – als alte Bekannte – ihr mit Ihrem stets angenehmen und aufgeweckten Naturell beistehen können, wäre das für sie eine zusätzliche Medizin gewesen und hätte auch uns Gesunden eine wohltuende Stimmung beschert. Es hat nicht so sein sollen. Wir haben jetzt durch Vermittlung Schwester Boon bei uns – sie meint Sie zu kennen. Es wird, so hoffe ich, gut gehen, und wir müssen es abwarten. Wir sind keinesfalls auf sie festgelegt, doch sorgte sie recht gut für meine Frau, und nach den wenigen Tagen kann man noch so wenig sagen. Ich gedenke daher weiterhin Ihrer, aber womöglich sind Sie für längere Zeit in Dienst und es wird keine Gelegenheit geben.
     
    Oud hatte Oma Annetje also als »alte Bekannte« gebeten, für seine »mehr als überspannte« Gattin zu sorgen.
    Hieß das, dass H.   C. und Ann ein paar Jahre davor ein Verhältnis gehabt hatten? Aus dem ein Kind namens ›Willem‹ hervorging, das nur ganz kurz gelebt hatte? Gerade so lange, dass das Formular halb ausgefüllt wurde? Oder war es schon bei der Geburt tot gewesen? Und als H.   C.   Ouds Gattin ein paar Jahre später erkrankt war, hatte dieser sich an seine frühere Liebe erinnert und sie – mittlerweile als ausgelernte Krankenschwester – gebeten, für sie zu sorgen. So musste es gewesen sein!
    Mit dieser Entdeckung waren mein Bild von Oma Annetje und meine frühere Erinnerung an sie mit einem Schlag verändert. Wenn sie wirklich 1916 ein Kind bekommen hatte, tot oder lebendig, dann war das eine gute Erklärung für ihr lebenslanges Sehnen nach allem, was Baby war. Eine Geburtsanzeige von einem soundsovielten neuen kleinen Oud hatte sie mit einer kritischen Randbemerkung versehen:
     
    Was für ein Engelchen! Merkwürdig, aber die Mutter würde ich gerne glücklicher sehen. Wenn man so etwas Kostbares im Arm hat, dann muss nach meinem Gefühl doch das Glück von einem abstrahlen! – aber ich weiß selber, dass ich mich einfach nur freue über so ein kleines Wunder – das mit dem bloßen Köpfchen auf der Sessellehne würde ich allerdings nicht machen   …
     
    Das erinnerte mich an das Tauziehen um meinen Bruder Jaapje, früher, auf Vosseveld. Ich sah es wieder vor mir: Oma Annetje hinter ihrem silbernen Teeservice, meine Mutter mit dem schlafenden kleinen Jaapje auf dem Schoß, meine Schwester Lieske und ich, die Krankenhaus spielten, das Teeritual, der Apfelkuchen, der angeschnitten wurde. Lieske, die zuerst ihre Kruste aß, während ich meine bis zum Schluss aufhob; unser kleiner Bruder Bennie stopfte sich allesin den Mund und wollte danach zu meiner Mutter auf den Schoß.
    Die protestierte: »Komm, Bennie. Du siehst doch, dass ich – aua, mein Arm!« Mary – meine Mutter – hatte sich eine Nervenentzündung geholt von all dem Waschen, Wringen, Bügeln und dem Schleppen von Bennie und dem neuen Baby, das jetzt auch noch zu brüllen anfing.
    »Gib ihn mir ruhig, Liebes«, sagte Oma Annetje, und auf ihrem Schoß kam Jaapje tatsächlich zur Ruhe. Doch meine Mutter schlug mit dem Absatz auf die Bodenfliesen und machte ihre Kaubewegung, was nie etwas Gutes verhieß. Sie war schon auf dem Weg nach Vosseveld verärgert gewesen, weil Bennie so schwierig war, und jetzt fing auch noch der kleine Jaapje an zu schreien.
    »Er hat Hunger, der kleine Mann«, sagte Oma Annetje.
    Meine Mutter sagte: »Tja, liebe Tante. Dann musst du ihn wohl doch kurz mal wieder hergeben!« Sie hatte ihre Bluse aufgeknöpft.
    Oma Annetje gab ihr das Baby.
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