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Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)

Titel: Frau im Schatten: Eine Familiengeschichte (German Edition)
Autoren: Dorinde van Oort
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»Ich würde das Köpfchen nicht so hängen lassen«, sagte sie hilfsbereit. »Und den Rücken etwas stützen. Die Wirbel   …«
    Doch meine Mutter entgegnete schnippisch: »Ich werde doch wohl allmählich selber wissen, wie ich mein Kind halten muss!«
    Jaapjes geöffnetes Mündchen suchte, schnappte daneben, fand schließlich den Nippel. Ächzend trank er aus der vollen, weißen Brust, auf der sich blaue Äderchen abzeichneten. Man konnte das Blut in seiner Fontanelle pochen sehen, die zuwuchs, wenn das Kind größer wurde, wie wir von Oma Annetje wussten.
    Omas Hände streichelten die Griffe ihres Teetabletts, strichen eingebildete Falten in der persischen Tischdecke glatt. Sie starrte aus dem Fenster. Der Wind wehte kräftig. Die hohen Kiefern um Vosseveld stöhnten. Omas lange Ohrringeaus Blutkoralle glänzten matt im letzten Licht des Tages. Ihre Augen, unter den schweren Lidern, waren zwei schiefe, nach unten gerichtete Dreiecke. Die traurigen Augen, die verkrampft hochgezogenen Mundwinkel. Sie hörte nicht einmal, dass meine Schwester Lieske sie rief.
    Kein Wunder, dass sie neidisch war auf meine Mutter, die das Geschenk von vier Kindern nur mit Ach und Krach zu tragen vermochte! Sie hatte natürlich an ihren ›Willem‹ gedacht.
    Jetzt erinnerte ich mich auch plötzlich an unsere Meinungsverschiedenheiten um die
Dolle Minas
von der niederländischen Frauenbewegung, die unter anderem die Pille auf Krankenschein und die Legalisierung der Abtreibung forderten.
    Das war im Jahr 1970, als ich schon in Amsterdam studierte und Oma Annetje ab und zu in ihrer Wohnung in Baarns besuchte. Die Zeitung hatte ein Foto von Frauen mit hochgezogenen T-Shirts gebracht, die ihren nackten Bauch zeigten: Mein Bauch gehört mir! Ich sehe Oma Annetje noch mit der Zeitung in den Händen dastehen: sprachlos, das Gesicht verzogen von Abscheu und Fassungslosigkeit. Ich habe damals wohl eine Lanze für die Minas gebrochen, was nicht gut bei ihr ankam. Jedenfalls hatte ich unlängst einen Brief darüber gefunden, von mir geschrieben, den Oma Annetje mir einmal zurückgegeben hatte, so wie sie es zu tun pflegte:
     
    Liebe Oma Annetje, es tut mir leid, dass unsere Diskussion am Sonntag so stürmisch verlief. Lass mich dich jedoch beruhigen: Ich habe nie bei den Bloßer-Bauch-Aktionen der Dolle Minas mitgemacht, dafür bin ich einfach nicht der Typ. Aber für diese streitlustigen Damen hab ich doch schon Bewunderung, wenn auch nur deswegen, weil sie sich für Veränderungen einsetzen, von denen auch ich profitieren kann. Du schreibst in deinem Brief, du hättest gehofft, dass diese Stürme eine Verbesserung herbeiführen mögen. Nun, ich bin überzeugt, dass dem so ist,wenn auch die Mittel dir vielleicht etwas roh erscheinen. Nein, ich glaube wirklich nicht, dass die alten Werte verloren gehen, aber schon, dass nach neuen Formen gesucht werden muss. Wirklich, ich finde diese Zeit ebenso chaotisch und unbegreifbar wie du! Auch junge Menschen tappen im Dunkeln darüber, wie ihre Zukunft aussehen wird, woran sie sich festhalten sollen. Die ganzen Proteste und Demonstrationen sind auch kein Hochmutswahnsinn, so wie du meinst, sondern die gegenwärtig gängige Methode, um Menschen wachzurütteln. Natürlich bist du nicht »zu alt, um die Jugend zu begreifen«. Wer begreift denn schon, was hier vor sich geht? Vielleicht wird das in fünfzig Jahren deutlich, ob der ganze Stress sich gelohnt hat. Liebe Oma Annetje, ich hoffe, dass du ein bisschen nachempfinden kannst, was ich meine, ansonsten reden wir einfach noch mal drüber. Dir alles Liebe und einen dicken Kuss auf dein liebes Gesicht.
     
    Der Brief hatte nichts genützt. Vielleicht waren die Dolle Minas nicht das Einzige gewesen. Oma Annetje war enttäuscht von mir. Wie oft hatte sie mir die Karten gelegt. Sie hatte mir Kinder prophezeit, Eheglück; sie hatte mir den Himmel versprochen, die Welt, Reichtum. Ihre Prophezeiungen hatten sich nicht bewahrheitet. Ich heiratete nicht jung. Aus Kindern wurde nichts. Allerdings schrieb mir Oma Annetje einen lieben Brief, als meine Hoffnung darauf endgültig verflogen war. Eine Passage daraus könnte man, bei näherer Betrachtung, als Hinweis auf einen ›Willem‹ deuten.
     
    Ich selber hatte auch einmal den größten Kummer, ich dachte, ich würde nie mehr darüber hinwegkommen – weil ich nicht
allein
davon betroffen war. Nach etwa einem Jahr ging ich eines Weihnachtsabends zur Kirche, sah ganze Familien vor der Krippe voller Liebe
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