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Frau Holle ist tot

Frau Holle ist tot

Titel: Frau Holle ist tot
Autoren: Roland Stark
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Weißt
du eigentlich, dass er auf der Intensivstation liegt?«
    Mayfeld hielt den Atem an. Er suchte im Gesicht seiner
Tochter Anzeichen dafür, dass sie nur einen makabren Scherz machte, konnte aber
zu seiner Bestürzung keine entdecken.
    »Das ist kein Scherz, Papa«, sagte sie und kaute auf
ihrem Kaugummi herum, ließ sich dabei demonstrativ viel Zeit, während sie die
Reaktion ihres Vaters beobachtete. Irgendwann schien sie genug gesehen zu
haben.
    »Montag oder Dienstag kommt er auf Normalstation, und
in ein paar Tagen wird er entlassen«, erlöste sie ihren Vater schließlich.
    Mayfeld atmete auf. »Dann geht es ihm also wieder
gut?«
    »Das willst du doch bloß hören, damit du ihn nicht zu
besuchen brauchst«, rief Lisa empört.
    »Nenn es mitmenschliches Interesse.«
    »Ich glaub schon, dass es ihm wieder besser geht. Ich
musste ihm Zigaretten mitbringen.«
    »Auf die Intensivstation?« Mayfeld schüttelte
ungläubig den Kopf. »Seit wann machst du denn, was man dir sagt?«
    Mayfelds Schwägerin Elly kam in die Küche. »Es geht
los, die ersten Gäste sind da. Zweimal Kartoffel-Carpaccio mit Hasenrücken und
zweimal Rote-Bete-Carpaccio mit Forellentatar.«
    Julia stand auf, nahm zwei Hasenrückenfilets und ging
zum Herd. Sie bat Lisa, das vorbereitete Forellentatar aus dem Kühlschrank zu
holen.
    Mayfeld stand ebenfalls auf. Ab jetzt würde er in der
Küche nur stören. »Was sagtest du gerade über Herbert?«, fragte er seine
Tochter.
    Lisa grinste. »Ne Woche war der Opa krank, jetzt
raucht er wieder, Gott sei Dank.«
    ***
    Hundertvierundvierzig, hundertfünfundvierzig,
hundertsechsundvierzig, hundertsiebenundvierzig. Fertig. Er hatte alle
Sommersprossen des Mädchens gezählt. Zumindest fast alle. An ein paar Stellen
hatte er sich nicht getraut nachzusehen. Er schob den Pulli und das T-Shirt
wieder runter und zog die Jeans wieder hoch. Ganz schön viele Sommersprossen.
Das Mädchen schlief immer noch. Aber es war nicht noch kälter geworden.
Vielleicht sogar etwas wärmer. Und es atmete ein wenig. Zumindest kam ihm das
so vor.
    Nun lag Sneewittchen lange lange
Zeit in dem Sarg und verweste nicht, sondern sah aus, als wenn es schliefe,
denn es war noch so weiß als Schnee, so rot als Blut und so schwarzhaarig wie
Ebenholz.
    Er musste warten. Es war schade, dass er so wenig über
Mädchen wusste. Lass die Finger von den Mädchen, davon verstehst du nichts,
hatte Mama gesagt. Aber Mama war nicht da, die musste weg, weil sie der rote
Wolf gebissen hatte. Schon ein paarmal hatte er heute gedacht, dass es gar
nicht so schlecht war, wenn Mama nicht da war. Sie kümmerte sich um alles, aber
er war doch schon ein großer Junge, auf den man nicht mehr so aufpassen musste
wie früher, als er noch zur Schule ging. Immerhin konnte er lesen und schreiben
und sogar ein bisschen rechnen. Und sehr, sehr gut kochen. Und er vergaß
nichts. Niemals, nie und nimmer. Er konnte sich alles merken. Am liebsten die
Märchen aus dem Märchenbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Die versteht er sogar,
hatte Mama einmal zu Tante Sylvia gesagt. Ja, die Märchen verstand er. Aber
nicht die Mädchen. Mit denen kannte er sich nicht aus.
    Früher hatte ihn die Mama eingesperrt, weil sie Angst
hatte, dass er was Dummes machen könnte. Aber Tante Sylvia hatte ihr gesagt,
dass das nicht recht war, und da hatte Mama ein Einsehen gehabt. Seitdem
verbrachte er jede freie Minute im Wald und sammelte alles ein, was ihm gefiel,
wenn er Mama nicht beim Kochen half oder in einem Märchenbuch las.
    Das mit dem Plumps war vielleicht keine so gute Idee
gewesen. Ein Fußknöchel des Mädchens war dick geworden, und ein Handgelenk war
angeschwollen. Am Kopf hatte das Mädchen jetzt eine hässliche Beule. Dummer
Junge, dummer Junge. Er schlug sich fest auf den Kopf, mit beiden Händen.
Früher hatte das sein Vater gemacht, der Fromm.
    Der Opa hatte immer gesagt, dass der Fromm ein
Scheinheiliger wäre. Dabei hatte der Fromm gar keinen Schein. Nie hatte er
einen gesehen, und er konnte sich an alles erinnern und vergaß nie etwas. Tante
Sylvia hatte Mama gesagt, dass es nicht recht war, dass der Fromm ihn schlug.
Niemand dürfe ihn schlagen, hatte sie gesagt. Und niemand dürfe ihn einsperren.
Und dann hatte Mama den Fromm sitzen lassen, und später war sie mit ihm in das
Haus im Wald gezogen, wo er ihr beim Kochen half. Bis der Wolf gekommen war und
sie gebissen hatte.
    Er hatte Mama versprechen müssen, dass er Tante Sylvia
besuchen würde. Aber das hatte
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