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Frau des Windes - Roman

Frau des Windes - Roman

Titel: Frau des Windes - Roman
Autoren: Insel Verlag
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Nonnen finden Leonora nicht nur widerspenstig, sondern gleichsam geistig gestört, niemand schreibt und malt mit beiden Händen.
    Für die ehrwürdige Mutter steht fest, dass die kleine Leonora geächtet werden muss. Spätestens seit dem Tag, als sie mit Grippe das Bett hüten musste und Leonora ihr eine Nachricht zukommen ließ, in der stand, eine irische Bachstelze habe sich vor ihrem Fenster niedergelassen, um den Tod der Oberin anzukündigen: ›Ehrwürdige Mutter, Ihnen bleiben nur noch wenige Tage.‹
    »Kind, die Mutter Oberin erwartet dich im Direktorat.«
    »Ist sie denn nicht gestorben?«
    Der Beichtvater und die Schwestern des Ordens vom Heiligen Grabe beschließen, sie der Schule zu verweisen. Erhobenen Hauptes, wie ihre Stute Winkie es tun würde, nimmt sie die Entscheidung entgegen.
    »Ihre Tochter zeigt nicht nur ein höchst befremdliches Verhalten, sie hat auch keine einzige Freundin gefunden, deshalb kann sie nicht länger unserer Gemeinschaft angehören«, erklärt die ehrwürdige Mutter Harold Carrington.
    »Du bist ein unmögliches Kind«, sagt der Vater ärgerlich.
    Leonora schwebt umher wie ein Blatt Papier, sie wird sich verflüchtigen, und niemand kann das Geringste für sie tun.
    Dank der Fürsprache des Bischofs von Lancaster, der mit der Familie Carrington beim Tee sitzt, wird Leonora in einem anderen katholischen Kloster aufgenommen, dem St. Mary’s in Ascot. Auch dort sind die Nonnen süchtig nach der Dornenkrone.
    Unter den schwarzen Schleiern das Blut.
    Maurie bittet um ein eigenes Zimmer für ihre Tochter und sondert sie so ungewollt von den anderen ab.
    Die Lehrerin weist Leonora im hinteren Teil des Klassenzimmers einen Platz zu und fragt die neue Schülerin von ihrem erhöhten Pult aus:
    »Was machst du da, Carrington?«
    »Ich zeichne Pferde.«
    Auf der Stelle holt sie sie nach vorne, in die erste Reihe, und lässt sie nicht mehr aus den Augen.
    Wenig später beklagt sich die Lehrerin: »Sie vergisst alles und lässt sich ständig ablenken, beim Spielen wie beim Lernen. Plötzlich hält sie inne, und nichts kann sie auf die Erde zurückholen.«
    »Das ist ihr irisches Blut. Irland ist die Heimat der Schwachsinnigen und Sonderlinge«, antwortet die ehrwürdige Mutter von St. Mary’s.
    Leonoras Cousine Patricia Paterson, ebenfalls Schülerin des Klosters, sucht sich lieber andere Freundinnen. »Ich bin gegen Disziplin«, erklärt ihr Leonora. »Du willst dich nur nicht fügen«, sagt Patricia, »dabei wärst du besser dran, wenn du dasselbe tun würdest wie ich: gehorchen.« Wenn Leonora Musik hört, entspannen sich ihre Züge, in der Kapelle, wo die Orgelklänge sie einhüllen, vergisst sie die anderen. Sie spielt gut Klavier, die Schwestern würden sie gern auf den Pfad der Musik führen, sie in den Chor aufnehmen. Darauf besorgt Leonora sich eine Säge, der sie schaurige Töne entlockt. »Das ist meine Geige«, erklärt sie der Chorleiterin, die ihr nicht erlaubt, das von ihr vorgeschlagene Konzert zu geben. »Ich fühle mich als Teil der Musik, gebt mir Farben, gebt mir Pinsel, lasst mich in Ruhe«, verteidigt Leonora sich mit ihren schwarzen Augen, die wie Dolche aufblitzen. »Du bist besessen«, entgegnet die Lehrerin.
    Leonora ignoriert die Anweisungen und schreibt weiter mit links und in Spiegelschrift.
    In der nachgebildeten Lourdesgrotte raucht sie heimlich, bis eine Novizin sie verrät.
    »Aha, dieses Laster hast du also«, stellt die Mutter Oberin fest.
    »Seitdem ich elf bin.«
    »Weiß jemand bei dir zu Hause davon?«
    »Nanny. Sie hat gesagt, wenn ich so weitermache, wird kein Kaminfeger mehr durch meine Kehle steigen können, ohne sich schmutzig zu machen.«
    »Woher hast du die Zigaretten?«
    »Mein Vater hat eine ganze Kiste voll.«
    Noch vor den Sommerferien wird sie abermals der Schule verwiesen. Patricia Paterson begleitet sie bis ans Tor. »Das mit der Säge war wirklich der Gipfel.«
    Leonora ist zehn Jahre alt, als die Carringtons mit Nanny nach Hazelwood ziehen, in ein weniger prunkvolles Anwesen als Crookhey Hall. Dafür ist es von salziger Meerluft umweht. Hier gibt es nicht so viele dunkle Gänge und Flure, so dass sie mit Gerard nicht mehr Gespenster spielen kann, aber der Geruch nach Meer macht alles wett. Ihr altes Zuhause hatte einen imposanten Salon, in dem ein Spinnrad in der Ecke stand. Überall hingen Spiegel und Lanzen; am auffälligsten aber war die Ritterrüstung, die auch jetzt, in dem neuen Salon in Hazelwood, Wache steht. Einmal sind
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