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Frage 62

Frage 62

Titel: Frage 62
Autoren: T. C. Boyle
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Mann zusammenzusein, der ihr das Gefühl gab, klein zu sein. Und verletzlich. Mit einem Mann, der ihren Kopf an seine Brust drücken konnte, bis sie weiche Knie bekam.
    »Und darum bin ich also hier«, sagte er und betrachtete kurz das blasse Gold des Weins in seinem Glas, bevor er den Kopf in den Nacken legte und den Rest austrank. »Darum gehe ich von Haus zu Haus und werbe um Unterstützung für Frage 62 – das tue ich für die Vögel. Um die Vögel zu retten.«
    Sie hatte das Gefühl zu schweben, schwerelos hinauf und durch die Decke des Trailers zu schweben, um vom Wind davongetragen zu werden, als wäre sie selbst ein Vogel. Zwei Scotch und zwei Gläser Wein auf weitgehend nüchternen Magen, und das Lachsgratin in Limonen-Dill-Sauce stand noch immer tiefgefroren auf der Küchentheke. Sie riss sich zusammen, ließ sich im Sessel zurücksinken, atmete tief aus und lächelte ihn an. »Na gut«, sagte sie, »Sie haben mein Interesse geweckt – was ist Frage 62?«
    Die Antwort nahm zehn Minuten in Anspruch. Sie setzte ihr Zuhörergesicht auf und schenkte ihm und sich selbst je ein halbes Glas nach, und draußen wurde die Sonne stärker und fiel jetzt in klar abgegrenzten, langsam über den Teppich kriechenden Streifen durch die Jalousie. Über Frage 62, sagte er, werde am 12. April in zweiundsiebzig Landkreisen abgestimmt, und es gehe dabei einfach darum, ob Katzen in die Liste der ungeschützten Tiere aufgenommen werden sollten, auf der bereits Stinktiere, Ziesel und andere Schädlinge stünden. Katzen seien kalte, präzise Killer und somit eine Gefahr für das Ökosystem. Sie töteten Vögel und verdrängten einheimische Konkurrenten wie Falken, Eulen oder Füchse – kurz und gut: Alle Katzen, die ohne Halsband angetroffen würden, sollten rund ums Jahr und ohne Schonzeit zum Abschuss freigegeben sein.
    »Zum Abschuss freigegeben?« fragte sie. »Sie meinen mit Gewehren? Wie Rehe und so?«
    »Wie Ziesel«, sagte er. »Wie Ratten.« Seine Augen funkelten, und er beugte sich über sein leeres Glas, als wollte er hineinbeißen und es zermalmen. Er schwitzte, ein durchsichtiger Tropfen rann von seinem Haaransatz und verschwand in seiner buschigen rechten Augenbraue; mit einer fließenden Bewegung streifte er den Parka und die Mütze ab und enthüllte einen dichten Schopf rostroten, an den Spitzen blond getönten Haars. Er starrte sie an.
    »Ich mag keine Gewehre«, sagte sie.
    »Aber es gibt sie nun mal.«
    »Mein Mann ist durch ein Gewehr umgekommen.« Während sie das sagte, es als nüchterne Tatsache konstatierte, sah sie Robert keine fünfzehn Meter von hier, wo sie jetzt saßen, entfernt auf der Erde liegen, hörte die Sirenen und die Schüsse und hatte wieder das Gesicht von Tim Palko im Trailer gegenüber vor Augen. Tim Palko, der seinen Job verloren, sich eine Woche lang betrunken und dann mit seinem Jagdgewehr herumgeballert hatte, bis das Einsatzkommando immer näher gerückt war und er den Lauf in den Mund gesteckt und ein letztes Mal abgedrückt hatte. Sie wusste, wie Tote aussahen – im Page-Seniorencenter bekam sie jede Woche welche zu sehen –, und als sie nach dem ersten Schuss, der geklungen hatte wie ein Schlag auf eine Basstrommel, aber ohne Resonanz, zum Fenster gerannt war, hatte sie an der Art, wie Robert dagelegen hatte, sofort gesehen, dass ihn der Tod erwischt hatte, und zwar auf der Stelle. Wie konntest du da so sicher sein? hatte Mae sie gefragt, doch sie hatte schließlich zwei Augen im Kopf und es mit absoluter, unabänderlicher Gewissheit gewusst, und dieses Wissen, so hart und kalt es gewesen war, hatte sie gerettet. Wenn ich da rausgerannt wäre, Mae, hatte sie gesagt, würden wir jetzt nicht hier sitzen.
    Der Mann – Todd – schlug die Augen nieder und machte ein Geräusch ganz hinten in der Kehle. Sie schwiegen für einen Augenblick und lauschten auf den Wind, und dann schoben sich Wolken vor die Sonne, und der Raum wurde ein, zwei Schattierungen dunkler. Sie streckte die Hand aus und schaltete die Lampe ein. »Tut mir leid«, sagte er. »Es muss schwer für Sie sein.«
    Sie antwortete nicht, sondern betrachtete sein Gesicht, seine Hände, das nervöse Wippen seiner rechten Ferse. »Vielleicht«, sagte sie, »sollte ich noch eine Flasche aufmachen. Nur ein Gläschen noch. Was meinen Sie?«
    Er sah auf und hatte dieses Grinsen auf dem Gesicht, ein Grinsen, das zwischen zwei Herzschlägen auferstanden war und alles wiedergutmachte. »Ich weiß nicht«, seufzte er, und nun
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