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Frage 62

Frage 62

Titel: Frage 62
Autoren: T. C. Boyle
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unter einem Himmel aus gemeißeltem Granit die überfrorene Zufahrt entlang, in den Armen zwei Tüten mit Lebensmitteln. Sie hatte die Nachtschicht im Page-Seniorencenter, von Mitternacht bis acht, und nach Feierabend hatte sie mit ein paar anderen Schwestern etwas getrunken und war anschließend durch die Gänge des Supermarkts geschlendert und hatte ein paar Sachen eingekauft. Jetzt, da der Wind ihr ins Gesicht blies und ihre Fingerspitzen vor Kälte brannten, dachte sie nicht sehr klar, aber wenn sie überhaupt an etwas dachte, dann an den Fisch: fettarme Küche, schwupp, in die Mikrowelle, runtergespült mit zwei Gläsern Chardonnay, dann noch ein bisschen lesen, bis sie in den mittäglichen Tiefschlaf fiel, der von einem Koma kaum zu unterscheiden war. Vielleicht würde sie sich aber auch einen Film ansehen, denn sie war fix und fertig, und ein Film erforderte weniger Anstrengung als ein Buch, auch wenn sie die dreiundzwanzig Kassetten auf dem Regal über dem Fernseher schon so oft abgespielt hatte, dass sie die Filme auch mit verstopften Ohren und verbundenen Augen hätte verfolgen können.
    Sie wollte gerade die Stufen zu ihrem Trailer hinaufsteigen, als aus dem Zwielicht unter der Treppe ein Schatten auftauchte, ein Kopf, den sie erkannte. Es war Einauge, der herrenlose Kater, der mit diversen Geliebten in der geheimen Festung unter dem Trailer lebte und den sie weder ermunterte noch verscheuchte. Sie hatte nie eine Katze gehabt. Hatte Katzen eigentlich nie sonderlich gemocht. Und Robert hatte zeit seines Lebens ohnehin kein Tier im Haus haben wollen. Hin und wieder warf sie eine Handvoll Trockenfutter vor die Tür und kam sich dabei mildtätig vor, aber der Kater tötete Vögel – mehr als einmal hatte sie vor den Stufen verstreute Federn gefunden –, und sie hätte ihn vermutlich vertrieben, wenn nicht das mit den Mäusen gewesen wäre. Seit er unter dem Trailer wohnte, hatte sie in den Schränken und auf der Küchentheke keine kleinen schwarzen Mäuseköttel mehr gefunden, und sie wollte gar nicht daran denken, welche Krankheiten von Mäusen übertragen werden konnten. Jedenfalls, da stand Einauge und starrte sie an, als fühlte er sich irgendwie gestört, und sie wollte gerade etwas sagen, ihre Stimme zu einem leisen, albernen, idiotischen Falsett heben und miez, miez, miez flöten, als der Kater wie der Blitz unter der Treppe verschwand und ein Mann um die Ecke des Trailers gegenüber bog.
    Sein Gang war hüpfend, beinahe ein bisschen verrückt, und er kam mit einem breiten, aufgesetzten Grinsen auf sie zu – er wollte ihr etwas verkaufen, das war es –, und bevor sie den Schlüssel ins Schloss stecken konnte, war er auch schon da. »Einen wunderschönen guten Morgen«, schmetterte er. »Ist diese Kälte nicht herrlich?« Er war groß, beinahe so groß wie sie, und dabei stand sie auf der dritten Stufe, und er trug eine Art Pelzmütze, an der hinten ein zerzauster, ausgefranster Schwanz hing – Waschbär, dachte sie, sah aber gleich, dass es nicht Waschbär, sondern etwas anderes war. »Soll ich Ihnen helfen?«
    »Nein«, sagte sie und hätte die Sache gleich hier beendet, wenn nicht dieser Ausdruck in seinen Augen gewesen wäre: Er wollte etwas, aber er wollte es nicht unbedingt, und er hatte nicht vor, ihr etwas zu verkaufen, das war ihr jetzt klar. Hier gab es etwas zu entdecken, und trotz der frühen Morgenstunde war ihre Neugier geweckt – sie hatte zwei Dewar’s mit Soda intus, und das einzige, worauf sie sich freuen konnte, war Fisch, Chardonnay und totenähnlicher Schlaf. »Nein, danke«, fügte sie hinzu, »ich komm schon zurecht«, und als sie die Tür öffnete, gab er seinen Spruch zum besten.
    »Ich wollte Sie fragen, ob Sie vielleicht eine Minute Zeit haben. Für eine Frage. Dauert bloß eine Minute.«
    Ein Jesusfreak, dachte sie. Hat mir gerade noch gefehlt. Sie war halb durch die Tür, drehte sich um und sah zu ihm hinab, doch er musste an die zwei Meter groß sein, denn seine starren blauen Augen waren beinahe auf derselben Höhe wie ihre. »Nein«, sagte sie, »ich glaube nicht. Ich komme gerade von der Nachtschicht und –«
    Er zog die Augenbrauen hoch, und auch die Mundwinkel hoben sich ein wenig. »Nein, nein, nein«, sagte er, »ich bin kein Bibeltyp oder so. Ich will Ihnen nichts verkaufen, ganz und gar nicht. Ich bin bloß Ihr Nachbar. Todd Gray. Ich wohne drüben in der Betts Street.«
    Der Wind kämpfte mit der Heizungsluft und dem leisen, warmen, leicht ranzigen Geruch
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