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Frage 62

Frage 62

Titel: Frage 62
Autoren: T. C. Boyle
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sich gegen das Gitter und ließ sich langsam auf den Boden nieder, bis er im wuchernden Unkraut lag, als hätte er den behaglichsten Platz auf der Welt gefunden. Sie hörte Vögel – den rauhen Ruf eines Hähers vom Nachbargrundstück, die Improvisationen zweier Drosseln über dasselbe Thema – und das Ächzen und Rumpeln eines Wagens, der hinter dem Haus vorbeifuhr, und dann hörte sie das Atmen des Tigers, so deutlich, als säße sie im Wohnzimmer und das Geräusch käme aus den Lautsprechern von Dougs Stereoanlage. Es war nicht direkt ein Schnurren, sondern ein tiefes, kehliges Rasseln, und nach einigen Augenblicken wurde ihr bewusst, dass das Tier schlief und eine Art Schnarchen von sich gab, ein pfeifendes Ein- und Ausatmen, ein und aus, ein und aus. Sie war verwundert. Bass erstaunt. Wie viele Menschen hatten schon einmal einen Tiger schnarchen hören? Wie viele Menschen auf der Welt, in der Geschichte der Menschheit, ganz zu schweigen von Moorpark? Sie fühlte sich gesegnet, sie spürte einen Segen, der sich vom grauen Dach des Morgens auf sie herabsenkte, ein Gefühl der Privilegiertheit und der Intimität, das niemand sonst empfinden konnte. Dieses Tier gehörte ihr nicht, das wusste sie – irgendwo gab es einen Besitzer, der es suchte, und bald würden die Polizei, Suchhunde, Fährtenleser, Bewaffnete auftauchen –, doch dieser Augenblick, dieser Augenblick gehörte ihr.
    »Na ja, lassen Sie es mich so sagen«, begann er. »Wie ich sehe, haben Sie unter Ihrem Trailer ein paar wilde Katzen …«
    »Wildkatzen?« Sie musterte die Mütze genauer. War das vielleicht ein Wildkatzenfell?
    »Katzen. Verwilderte Katzen.«
    Er sah sie eindringlich an, er forderte sie mit seinem Blick heraus. Sie zuckte die Schultern. »Drei oder vier. Sie kommen und gehen.«
    »Aber Sie füttern sie doch nicht etwa, oder?«
    »Eigentlich nicht.«
    »Gut«, sagte er und wiederholte es noch einmal mit geradezu religiöser Inbrunst, und seine Stimme hallte von der Plastikverkleidung der Decke wider. Sie sah, dass das Glas, das er mit seiner riesigen Hand auf dem Schoß seiner Jeans balancierte, leer war. »Sie bringen nämlich Vögel um, und zwar ziemlich viele. Haben Sie hier schon mal Federn herumliegen sehen?«
    »Eigentlich nicht.« Das war der richtige Moment, um einen Blick auf ihr eigenes leeres Glas zu werfen und es ins Licht zu halten. »Ich trink noch eins, das wird mir beim Einschlafen helfen – möchten Sie auch?«
    Er machte eine unbestimmte Handbewegung, die sie als Zustimmung deutete. Sie nahm die Flasche vom Couchtisch, hielt sie für einen Augenblick hoch, so dass das bleiche Tageslicht durch das Fenster auf das Etikett fiel, und beugte sich weit über den Fjord seiner gespreizten Beine, um ihm nachzuschenken. Er bedankte sich nicht. Schien es nicht mal zu merken. »Ich mag Vögel«, sagte er. »Ich liebe Vögel. Ich bin seit der sechsten Klasse Mitglied im Vogelschutzbund, müssen Sie wissen.«
    Musste sie nicht. Wie hätte sie es auch wissen sollen – sie hatte ihn ja erst vor zehn Minuten kennengelernt? Aber große Männer hatten ihr schon immer gefallen, und jetzt gefielen ihr die Art, wie er sich hier niedergelassen hatte, und die Art, wie die Dinge liefen. Er runzelte die Stirn, und sein Blick sprang sie an – er war eben doch ein Prediger. Sie schenkte sich selbst nach und zuckte abermals die Schultern. Lass ihn reden.
    »Jedenfalls«, sagte er und trank das halbe Glas mit einem Schluck aus, »jedenfalls … der ist wirklich gut, der Wein, ich verstehe jetzt, was Sie meinen. Aber zurück zu den Katzen. Wussten Sie, dass es allein in diesem Bundesstaat an die zwei Millionen streunende Katzen gibt und dass sie für den Tod von schätzungsweise siebenundvierzig bis hundertneununddreißig Millionen Singvögeln im Jahr verantwortlich sind? Hundertneununddreißig Millionen.« Er zog die Beine an, die Stiefel entfernten sich von ihr und schlugen leicht aneinander, als er sich aufsetzte. »Ist das nicht ungeheuerlich?«
    »Ja«, sagte sie und nahm einen Schluck Kalifornien, schmeckte die Sonne, die Erde, die Bäume, die Weinranken, die die Hügel zu einem riesigen grünen, traubenbehängten Teppich woben. Robert war eins achtzig groß gewesen, bloß drei Zentimeter größer als sie, aber das war gut, das war in Ordnung, denn sie hatte genug von Verabredungen mit Unbekannten und Freunden von Freunden, die ihr bloß bis zum Schlüsselbein reichten, aber sie hatte sich immer gefragt, wie es wohl wäre, mit einem
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