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Frage 62

Frage 62

Titel: Frage 62
Autoren: T. C. Boyle
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ihres Zuhauses, der dem Polster der eingebauten Couch, den billigen Dielen, der Küchentheke und der Deckenverkleidung aus Plastik entströmte. Sie stand halb drinnen, halb draußen, und er wartete in der Kälte.
    »Nein«, sagte er, »nein«, als hätte sie ihm widersprochen, »ich wollte bloß mit Ihnen über Frage 62 reden. Es dauert nur eine Minute.«
    Sie hockte schon so lange auf Händen und Knien da, dass ihr Rücken schmerzte – der untere Bereich, wo die Wirbelsäule begann, wo die Schwerkraft an den zusammengezogenen Muskeln und dem Bauch darunter zerrte –, und sie spürte das Gewicht ihres Rumpfs in Schultern und Handgelenken. Sie war schon so lange da, dass der Nebel sich aufzulösen begann. Eine nichtsahnende Schnecke glitt zwischen den Blättern einer Pflanze hervor und schob sich über die Knöchel ihrer rechten Hand, doch sie wollte sich nicht bewegen. Sie konnte sich nicht bewegen. Sie war jetzt jenseits von Furcht und tief im Reich der Faszination, der Magie und der Wunder, tief in der unwiderstehlichen Eigenartigkeit des Augenblicks. Ein Tiger. Ein Tiger in ihrem Garten. Das würde ihr niemand glauben. Niemand, nicht Doug, der im Schlafzimmer schnarchte, und auch nicht Anita, die bestimmt gerade in ihrem eingeschneiten, vom Nordwind umtosten Trailer hockte.
    Der Tiger hatte sich nicht bewegt. Er saß da, auf die großen pelzigen Vorderpfoten gestützt, wie ein Hund, der auf eine Belohnung wartet, und beobachtete sie mit gespitzten Ohren und zuckendem Schwanz. Sie sprach schon seit einer Weile leise mit ihm, murmelte Schmeicheleien, um den schrumpfenden Klumpen Angst zu besänftigen: »Braves Kätzchen, gutes Kätzchen, ja, so ist es gut« – und hier bekam ihre Stimme einen süßlichen Klang –, »du willst nur ein bisschen Liebe, oder? Nur ein bisschen Liebe, nicht?«
    Das Tier ließ nicht erkennen, ob es sie verstand, blieb aber, wo es war, und drückte sich, anscheinend ebenso fasziniert wie sie, an das eiserne Gitter, und während der Nebel sich um die lanzettförmigen Blätter des Oleanders legte und die nassen Schindeln des Hauses der Hortons gegenüber umwaberte, kam ihr mit einemmal die Erkenntnis, dass dieser Tiger jemandem gehörte, einem Menageriebesitzer oder einem privaten Sammler wie diesem Typ in Brooklyn oder der Bronx oder so, der in seiner Wohnung einen ausgewachsenen Tiger und in der Badewanne einen fast zwei Meter langen Alligator hielt. Natürlich, so musste es sein. Sie war ja nicht in Sumatra oder auf den Sundarbans, und es waren auch nicht Außerirdische in leuchtenden Raumschiffen gekommen und hatten über Nacht zahllose Tiger ausgesetzt. Es handelte sich um ein Haustier. Er war ausgebrochen. Und wahrscheinlich hungrig. Verwirrt. Erschöpft. Er war von ihr mit ihrem Strohhut und dem verwaschenen grünen Overall vermutlich ebenso überrascht wie sie von ihm. Es war eindeutig ein männliches Tier: Sie konnte den in einer Hautfalte geborgenen Penis und die beiden Kugeln der Hoden erkennen.
    Aber sie konnte nicht ewig in dieser gebeugten Haltung bleiben – ihr Rücken tat furchtbar weh. Und ihre Handgelenke. Ihre Handgelenke waren taub. Ganz langsam, als würde sie Yoga nach Anweisungen von einem Band machen, das mit halber Geschwindigkeit lief, ließ sie sich auf ihr Hinterteil sinken und spürte, wie der Druck auf ihre Arme nachließ, und das war gut, nur dass ihre neue Haltung den Tiger zu verwirren oder gar zu erregen schien. Er erhob sich und glitt geschmeidig am Gitter entlang bis zum Ende des Zauns, kehrte um und kam wieder zurück. Seine Schultermuskeln spannten sich, als er an den Stäben entlangstrich, und sie war sicher, dass er vorher in einem Käfig gelebt hatte und auch jetzt in einem Käfig sein wollte – in der Sicherheit, der Vertrautheit eines Käfigs, vermutlich der einzige Lebensraum, den er kannte. Ihr einziger Gedanke war, wie sie ihn dazu bringen könnte, auf diese Seite des Zauns zu kommen und vielleicht in die Garage zu gehen, wo sie die Tür abschließen und ihn verstecken könnte.
    Seit Robert tot war – vielmehr, seit er umgebracht worden war –, hatte sie nicht viele Besucher gehabt. Manchmal kam Tricia, die mit ihrem Freund drei Trailer weiter wohnte, abends auf eine Tasse Tee vorbei, wenn Anita gerade aufgewacht war und versuchte, Kraft für die Schicht zu sammeln, die vor ihr lag, aber der Dienstplan sorgte dafür, dass sie ziemlich viel allein war. Dabei war sie erst fünfunddreißig, seit nicht einmal einem Jahr Witwe, und noch kreiste
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