Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frage 62

Frage 62

Titel: Frage 62
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
Die ersten Regentropfen spritzten von ihrer Hutkrempe und trafen ihre Schultern. Für einen Augenblick glaubte sie, den Tiger riechen zu können, als wäre der Geruch – ein Geruch nach Urin, nach Fell, nach Wildnis – durch die Feuchtigkeit freigesetzt worden, doch sie war sich nicht sicher.
    Doug sah sie mit hellen, fragenden Augen an. »Und du hast ihn wirklich gesehen?« sagte er. »Wirklich? Du willst mich nicht verarschen, oder?« Im nächsten Augenblick ging er in die Hocke, streckte die Hand durch die Gitterstäbe und klopfte auf den Boden, als wäre dort noch immer das gestreifte Fell des Tieres.
    Sie sah hinab auf seinen Schädel, das schlecht geschnittene, verfilzte Haar und die kahle Stelle inmitten eines Wirbels, der galaktisch war, ein ganzer Kosmos für sich, und würdigte ihn keiner Antwort.
    Todd passte kaum in das Bett, das in einem gemütlichen kleinen Alkoven im Schlafzimmer stand, und zweimal bäumte er sich, mitgerissen von Leidenschaft, auf und schlug sich den Kopf an der niedrigen Decke an, und sie lag nackt unter ihm und musste lachen, weil er so ernst, so eifrig war. Doch er war auch zärtlich und geduldig – es war lange her, und sie hatte beinahe vergessen, welche Gefühle ein Mann in ihr wecken konnte, ein anderer Mann als Robert, ein Fremder mit einem neuen Körper, neuen Händen, einer neuen Zunge, einem neuen Schwanz. Mit einem neuen Rhythmus. Einem neuen Geruch. Robert hatte nach seiner Mutter gerochen, nach dem tristen feuchten Haus, in dem er aufgewachsen war, nach Pantoffeln und Menthol, nach dem alten Hund und dem Schimmel unter der Küchenspüle und dem süßlichen After Shave, mit dem er all das zu überdecken versuchte. Todds Geruch war anders, irgendwie frischer, als hätte er sich gerade im Schnee gewälzt, doch da war auch noch etwas anderes, etwas Dunkleres, Dichteres, und sie hielt ihn lange umarmt und drückte ihr Gesicht an seinen Hinterkopf, bis sie es schließlich erkannte: Es war der Geruch der Pelzmütze, die jetzt auf der Couch im anderen Zimmer lag. Sie dachte an die Mütze, und dann war sie weg, tief in ihrem Koma, und die ganze Welt schrumpfte zu ihrem Alkoven zusammen.
    Er hinterließ ihr eine Nachricht auf dem Küchentisch. Sie fand sie, als sie aufstand, um zur Arbeit zu gehen. Die Fenster waren dunkel, und die Heizung tickte wie ein Geigerzähler. Er hatte eine fließende, schöne Handschrift, und das gefiel ihr: die Sorgfalt darin und was diese Schrift über ihn als Menschen verriet. Auch was er schrieb, war ziemlich speziell. Er schrieb, sie sei die schönste Frau, die er je kennengelernt habe, und er wolle sie am nächsten Morgen zum Frühstück einladen, das sei also eine Verabredung, wenn ihr das recht sei, und er hatte mit seinem vollen Namen unterschrieben – Todd Jefferson Gray –, und darunter standen seine Adresse und Telefonnummer.
    Am nächsten Morgen, als ihre Schicht zu Ende war, ging sie über das schneevernarbte Gelände zu ihrem Trailer, und mit jedem Schritt stieg ihre Stimmung. Sie zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass er dasein würde, aber unwillkürlich drehte sie den Kopf und suchte das Gelände ab: Sie erwartete, dass er aus einem der Wagen aussteigen würde, groß, mit raschen Schritten und einem immer breiter werdenden Lächeln. Doch sie sah ihn erst, als sie beinahe in ihn hineinlief – er saß nicht in einem Wagen; er besaß keinen Wagen. Er stand mit ernstem Gesicht direkt vor der vorderen Stoßstange ihres Saturn, im Boden verwurzelt wie einer der Bäume, deren schwarzes Gewirr hinter ihm aufragte. Als sie, die Schlüssel in der Hand, an der Tür ihres Wagens stand und er sich noch immer nicht rührte, war sie verwirrt. »Todd?« hörte sie sich sagen. »Ist alles in Ordnung?«
    Er lächelte und nahm mit schwungvoller Geste und einer ironischen Verbeugung die Pelzmütze ab. »Wir sind verabredet, oder nicht?« sagte er, trat vor, ohne eine Antwort abzuwarten, und hielt ihr die Tür auf, bevor er auf den Beifahrersitz glitt.
    Im Diner – wo jetzt, vor dem Gottesdienst, viele Kirchgänger frühstückten –, bestellten sie zwei große Gläser Orangensaft, in die Todd diskret eine Dosis Wodka aus der Flasche gab, die er aus der Innentasche seines Parkas hervorholte. Sie trank ihr Glas in einem Zug aus, zündete sich die erste Zigarette des Tages an und bestellte noch einen Orangensaft. Erst dann sah sie auf die Speisekarte.
    »Nur zu«, sagte er. »Du bist eingeladen. Bestell dir, was du willst. Steak oder so. Steak
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher