Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Frage 62

Frage 62

Titel: Frage 62
Autoren: T. C. Boyle
Vom Netzwerk:
Zombie, das Lenkrad mit beiden Händen umklammernd, während der Wagen auf vereisten Stellen rutschte und schlingerte.
    Im Schnee vor ihrer Tür waren Spuren – Katzenspuren – und viele blaue Federn mit schwarzen Spitzen. Unter der Tür hatte jemand ein einmal gefaltetes Flugblatt durchgeschoben. NEIN ZU 62, stand darauf. RETTET UNSERE HAUSTIERE . Sie brachte es nicht über sich, eine Flasche Chardonnay zu öffnen – die würde sie für sonnigere Zeiten aufsparen –, machte sich aber einen Becher Tee, in den sie einen Schuss Dewar’s gab, und überlegte, was sie essen wollte. Vielleicht eine Suppe, eine Dose Gemüsesuppe und ein paar Scheiben Weizentoast zum Eintunken. Erst als sie den Fernseher eingeschaltet und die Beine hochgelegt hatte, sah sie, dass das Lämpchen des Anrufbeantworters blinkte. Es waren zwei Nachrichten darauf. Die erste war von Mae – »Ruf mich an«, sagte sie mit tragischer Stimme –, die zweite, auf die sie die ganze Woche gewartet hatte, war von Todd. Sein Wutausbruch tue ihm leid, aber er stehe in letzter Zeit unter großem Druck und hoffe, sie könnten sich – bald, sehr bald – wiedersehen, trotz aller Differenzen, denn eigentlich hätten sie doch eine Menge gemeinsam, und sie sei die schönste Frau, die er je kennengelernt habe, und er wolle es wirklich wiedergutmachen. Wenn sie ihn lassen würde. Bitte .
    Sie dachte darüber nach, was genau sie eigentlich gemeinsam hatten, abgesehen von zwei Begegnungen in ihrem Bett, beide in halb betrunkenem Zustand, und der Tatsache, dass sie beide groß waren und in Waunakee lebten, als das Telefon läutete. Sie nahm den Hörer gleich nach dem ersten Läuten ab und dachte, es sei Todd. »Hallo?« flüsterte sie.
    »Anita?« Es war Mae. Ihre Stimme klang ausgehöhlt, leer, als wäre sie jenseits von Tragik und Tränen. »Ach, Anita, Anita.« Sie brach ab und versuchte sich zu fassen. »Sie haben den Tiger erschossen.«
    »Wen? Was für einen Tiger?«
    »Er hatte nicht mal Krallen. Dieses wunderschöne Tier. Er war ein Haustier und hat irgend jemandem gehört, und er hätte niemals –«
    »Hätte niemals was? Was für ein Tiger überhaupt? Wovon redest du eigentlich?«
    Doch das war das Ende des Gesprächs. Die Verbindung war mit einemmal unterbrochen, ob auf ihrer oder auf Maes Seite, fand sie erst heraus, als sie versuchte, ihre Schwester zurückzurufen, und aus dem Hörer nichts als statisches Rauschen kam. Jemand war gegen einen Telefonmast geschleudert, das musste der Grund sein, und sie fragte sich, wie lange sie noch Strom haben würde. Das würde wohl als nächstes kommen: ein Stromausfall. Sie stand auf, öffnete den Deckel der Suppendose, gab den Inhalt in eine Porzellanschüssel und schaltete den Mikrowellenherd ein, solange das noch ging. Sie gab die drei Ziffern ein und wurde von dem mechanischen Brummen belohnt, mit dem das Ding in Aktion trat. Die Schüssel drehte sich, die Digitalanzeige zählte rückwärts – 3:30, 3:29, 3:28 –, bis plötzlich das Brummen verstummte, der Fernseher erstarb und die Neonbeleuchtung unter dem Oberschrank noch einmal flackerte und ihr Licht in der dunklen Röhre verbarg.
    Lange saß sie in den Schatten und trank den Tee, der die Grenze zwischen warm und lauwarm inzwischen überschritten hatte. Dann stand sie auf, gab eine Handvoll Eis in den Becher und füllte ihn bis zum Rand mit Whisky. Sie nippte daran und dachte unbestimmt an Essen. Ein Sandwich, sie würde sich ein Sandwich machen, wenn sie Hunger bekam, Weizenbrot mit Käse und Salatblättern, das ging auch ohne Strom. Ein Geräusch unter dem Trailer holte sie in die Gegenwart zurück: Es war ein Rascheln wie von einem Tier, das auf seinen vier Pfoten hockte und leise fraß.
    Sie würde die Katzen opfern müssen, das sah sie jetzt ein, denn sobald das Telefon wieder funktionierte, würde sie Todd anrufen. Sie wünschte, er wäre jetzt bei ihr, sie wünschte, sie wären im Bett, gut zugedeckt, jeder mit einem Glas Chardonnay in der Hand. Sie würden dem Schnee lauschen, der leise auf das Aluminiumdach des Trailers fiel. Die Katzen waren ihr gleichgültig. Sie bedeuteten ihr nichts. Und sie wollte es ihm recht machen, wirklich, und doch fragte sie sich unwillkürlich – und sie würde ihn ebenfalls fragen und auf eine Antwort bestehen –, wie Frage 61 gelautet hatte oder Frage 50, Frage 29. Das Land zubetonieren? Die Flüsse verschmutzen? Die Büffel abschießen? Und was war mit Frage 1? Sie stellte sich vor, wie Frage 1, mit Kreide auf
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher