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Fraeulein Stark

Titel: Fraeulein Stark
Autoren: Thomas Huerlimann
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so blöd wie zuvor. Eine schlichte Variante.
    Ich senkte den großen hohlen Kopf und war froh, daß die häßliche Brille nicht nur die krumme Nase, sondern auch meine Tränen verbarg.
    Schweigend kehrten wir aus der winterkalten Unterwelt in den lauen September zurück, schweigend aßen wir zu Abend, und als ich endlich in meiner Kammer lag, getraute ich mich nicht, eine der letzten noch sauberen Socken aus dem Koffer zu zupfen und unter die Decke zu schmuggeln. Ich lag wach, starrte ms Dunkel und stellte mir schaudernd vor, daß es Jahre, vielleicht Jahrzehnte dauern könnte, bis wieder ein Mensch das untergegangene Bücherreich betreten würde.

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    Wie soll ich es erklären? Nares bewahrte ihr Geheimniss, Nares behielt ihre liebreizende Gestalt, schön wie der Mond in der vierzehnten Nacht, sanft wie das Plätschern der Brunnen, süß wie der Brodem der Blumenbüsche kehrte sie arabisch verschleiert in den Palast meiner Sehnsucht zurück. Natürlich trug sie unter ihren Schleiern ein Dessous, ein federleichtes Stück Stoff, das ihre schwarzen Seidenstrümpfe mit flachen Schnallen festhielt und an den schneeweißen Oberschenkeln wie kleine Indianerzelte in die Höhe zurrte. Irgendwann, das wußte ich, würde mich die siebenschöne Nares trotz meiner krummen Nase, trotz der roten Katzenaugen in den Palast winken und unter ihre Tücher schlüpfen und durch den Torbogen der vom Vernunftphilosophen erfundenen Strapsbändel eintauchen lassen in ihr Geheimnis. Das würde erst in vielen, vielen Jahren geschehen, aber dieser Gedanke stimmte mich nicht traurig, eher müde, schläfrig, es gab ja nichts mehr zu tun, an diesen letzten Nachmittagen, da ich in den Pantoffeln lag, nahm der Verkehr mehr und mehr ab, nur noch selten trat eine Besucherin aus dem Saal, müde auch sie, die Saison war vorbei, und die Bücherarche, an den meisten Nachmittagen in eine frühe Dämmerung getaucht, glitt langsam und leise in den tieferen Herbst hinein.
    Hatte ich geschlafen; Schlief ich immer noch? Träumte ich;
    Das Klirren wurde lauter, kam näher, ich wollte wissen, was los ist, hatte aber Mühe, mit schlaftrüben Augen zu erkennen, was mir da durch den Gang entgegenklirrte, schiefbucklig auf eine Krücke gestützt, mit dem geschienten Bein. Auch die Türgreise glotzten, aber schon sanken ihre Schädel wieder nach vorn, sie hatten ihre Pflicht erfüllt, sie durften wegsehen, konnten weiterschlafen, nun lag es an mir, dem armen Mädchen zu sagen: Halt! Mit deiner Krücke darfst du
    nicht in die Bibliothek.
    Sollte ich das Fräulein rufen;
    Seit jener Nacht, da wir beschlossen hatten, miteinander zu fliehen, waren wir uns aus dem Weg gegangen. Wenn ich meine Milch trank, mußte sie gerade den Abort putzen, und hatte sie im Saal zu tun, betrat sie diesen fast ausschließlich durch eine Seitentür, entweder auf bloßen Socken oder mit ihren Tigerfinken, die zu den Kordhosen paßten wie die Faust aufs Auge. Hatte sie dem Onkel unsere Fluchtabsicht gebeichtet; Wußte er, daß ich ihr anerboten hatte, sie mitzunehmen und bei den Patres unterzubringen; Ich hatte keine Ahnung, doch war es mir lieber, wenn die Sache nicht mehr berührt wurde -plump waren wir auf Vize Storchenbeins Gelehrtenscherz hereingefallen, plump war die Sache aufgeflogen, und wer weiß, vielleicht fremdeten wir voreinander, die Stark und ich, weil wir erkannt hatten, daß wir beide das gleiche waren: schlichte Varianten. Nein, an das Fräulein konnte ich nicht gelangen, an den Onkel schon gar nicht, ich mußte mir selber helfen, ja, aber wie?
    Aber wie! Für den Klosterschüler wäre es kein Problem gewesen, am Stamm der Altherren hatte er so dies und das gelernt und wüßte vermutlich, wie man mit dem behinderten Besen umspringen müßte, tut mir leid, altes Mädchen, Bibliotheken und Tanzbühnen sind nichts für dich, laß uns ein wenig plaudern, es ist sowieso das letzte Mal, bald gehts in die Berge, andere Städtchen, andere Mädchen!
    So könnte er reden, ihr mit dem Taschentuch die Tränchen wegtupfen, vielleicht sogar ein Küßchen abschmeicheln, doch gerade jetzt, da mir sein steinernes
    Herz geholfen hätte, die peinliche Situation zu überspielen, war vom Klosterschüler weit und breit nichts zu sehen, der andere hatte Dienst, der kleine Katz, und war doch müde, müde vom langen Sommer, welk und wund und jung gealtert und wußte beim besten Willen nicht, wie er sich entscheiden sollte, für das arme Mädchen oder für den weltberühmten Geigenholzboden der
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