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Fraeulein Stark

Titel: Fraeulein Stark
Autoren: Thomas Huerlimann
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nach Winter. Als ich mich in dem graudüsteren, nur von Geistern und Ratten bewohnten Bücheratlantis schon verloren glaubte, trat ich aus einer engen Gasse auf einen Platz hinaus. Staubverschneite Kisten und Truhen standen herum, eine Art Warenlager, das darauf zu warten schien, endlich verschifft zu werden. Der Onkel war über eine offene Truhe gebeugt und kramte darin herum. Er sagte: Wir befinden uns hier in der nachreformatorisehen Blütezeit. Erster Bibliothecanus war damals Pater Schenk, 1680 bis 1705. Willst du mal sehen? So hat die Schenksche Katalogkarte ausgesehen.
    Zwar dämmerte mir jetzt, wo wir uns befanden: auf dem Friedhof der Katalogkarten. Jedesmal, wenn ein neuer Chef gekommen war, hatte er sein eigenes System eingeführt und das alte hier unten auf die Deponie geworfen. So war jede dieser Truhen und Kisten ein Grab, worin ein Buchstabe oder eine Silbe, auf eine Unzahl von Kärtchen verteilt, vor sich hinmoderte. Aber warum hatte er mich in diese Unterwelt hinabgeführt; Wofür sollte ich bestraft werden, für die Socken, für die Flucht oder ganz allgemein für mein Schauen und Schnuppern und Träumen?
    Die armen Hilfsbibliothekare, dachte ich plötzlich. Da hockten sie ein Leben lang im Scriptorium und füllten Katalogkarten aus, eine Karte nach der andern, Tausende und Abertausende von Stichworten und Titeln und Signaturen - und was geschah damit; Wo landeten sie; Sie landeten hier, in diesem von aller Welt vergessenen Hafen am Rand der eisigen Finsternis. Auf einmal zog er eine Karte hervor, hielt sie mir unter die Nase und fragte: Kannst du das lesen?
    Stotternd begann ich das Wort zu entziffern. Schre… Schrei… Auto.
    Ja, half er mir, Schreibautomat.
    Ich stutzte. Die Karte stammte aus der nachreformatorischen Blütezeit, als Pater Schenk Erster Bibliothecarius gewesen war, und natürlich wußte ich inzwischen, daß Remington, der amerikanische Revolverfabrikant, die Schreibmaschine erst sehr viel später erfun.den hatte, am Ende des vorigen Jahrhunderts. Trotzdem mußte es dieses Wort schon seit Urzeiten gegeben haben: Schreibautomat, hatte eine längst verweste Hand auf der Karte vermerkt und zugleich auf die Stellen verwiesen, wo man diesen Begriff zwischen A und U (im Parterre) oder AA und UU (oben, auf der Galerie) gefunden hätte.
    Den Schreibautomaten, meinte der Onkel, wird es erst im nächsten Jahrtausend geben. Wenn überhaupt, fügte er hinzu, aber nachweisbar sei das Wort schon unter Uto, Luithart und Waltram, den Bibliothekaren des 9. und 10. Jahrhunderts, als eine Art Seufzer am Seitenrand von Bibelabschriften aufgetaucht. Lieber Gott, habe da gestanden, ersetze deinen armen Diener Grimalt durch einen Schreibautomaten! Das Wort sei also dagewesen, lange vor dem Gegenstand, den es eines Tages bezeichnen würde. Kapiert, Nepos;
    Ja, Onkel, sagte ich unsicher. Mehr oder weniger.
    Das gleiche, fuhr er fort, gelte auch für andere Wörter, wie zum Beispiel Luftschiff oder Astronaut. Bereits in der Antike seien sie bekannt gewesen, doch erst vor wenigen Jahrzehnten sei drüben in Friedrichshafen der erste Zeppelin gestartet, und erst neulich, im April 61, hätten sie in einer Sputnikkapsel den ersten Menschen ins All geschossen. Quod erat demonstrandum, schloß er seine Rede. Was ist von der Zeppelinhalle geblieben; Nur ein paar verbogene, schwarz verschmorte Eisenrippen, die alliierten Bomber haben ganze Arbeit geleistet, zwischen AA und UU jedoch (oben, auf der Galerie) ist die fliegende Schifferei in ihrer ganzen Herrlichkeit versammelt, unzerstörbar bis zum Jüngsten Tag.
    Nomina ante res!
    Ja, sagte der Onkel, wichtiger Begriff, grundlegende Erkenntnis! Übrigens -abgekürzt heißt das Nares.
    Ich hob die linke Braue.
    Haben wir uns verstanden, du schlichte Variante? Nares ist eine unter uns Gelehrten gebräuchliche Abkürzung. Das N steht für Nomina, das a für ante, res für res. Nares. Ein Philosophenscherz! Vize Storchenbein hat euch auf den Arm genommen, meine Geliebte heißt tatsächlich Nares, und ich hätte geschworen, du würdest die Pointe erfassen. Hast du denn gar nichts gelernt; Ist nicht ein einziger Funke in deinen Schädel eingedrungen; Da haben wir dich einen Sommer lang auf der Bücherarche mitfahren lassen, und das Ergebnis? Rien. Null. Nichts. Du bist für unsere Herrlichkeit blind und taub geblieben. Du hast die Welt erblickt und nicht im Ansatz begriffen, daß du sie siehst. Ach, sagte der Onkel, es ist zum Haarölsaufen! Nichts hat er kapiert. Er ist
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