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Fossil

Fossil

Titel: Fossil
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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und der Regen tropft ihm von der Nase, seine braunen Augen kann sie im Dunkeln nicht erkennen.
    «Bitte», sagt sie, «es ist noch nicht zu spät. Noch nicht.»
    Er mustert sie eine Sekunde aus diesen nachtbedeckten Augen, dann nickt Deacon Silvey und legt den Arm um sie. «Hey, Elise», schreit er. «Hier stinkt es ganz gewaltig, lass uns hier verdammt nochmal abhauen.»
    Elise murmelt etwas Beleidigendes aus der Dunkelheit, übellauniger Widerspruch, aber dann taucht sie trotzdem neben ihnen auf, marschiert an Chance vorbei und hinaus in den Regen. Deacon folgt ihr, also ist Chance die Letzte, die das Blockhaus verlässt, die Letzte, die heraus ist aus der modermuffigen Luft, die nach Schimmel und Matsch riecht und auch einem Hauch nach Verwesung – wie ein offener, toter Tierkörper, der in einem heißen Sommer aufgequollen auf der Straße liegt. Sie zieht das schwere Eisentor wieder ran, das mit einem lauten Knall zuschlägt, der Tunnel wirft das Geräusch von Metall auf Metall zurück, und sie steht noch da und lauscht, bis der Knall schwächer wird, bis man nur noch den Regen auf den Blättern oben hört.

EPILOG
    JULI
     
     
     
    Zwei Wochen nach dem Tod ihres Großvaters, und sie wäre niemals allein hierhergekommen, nicht ohne Deacon. Wäre niemals hergekommen, aber ihre Träume haben sich langsam zu etwas so Realem, so Greifbarem verdichtet, dass sie ihr Angst machen, ein blasses Traummädchen, das ebenso echt ist wie jeder andere Mensch, den sie wirklich kennt. Und es macht gar nichts, dass sie nicht an diesen ganzen Hellseherquatsch glaubt, im Gegensatz zu Deacon, der es tut, und auch das ist egal. Ihre Therapeutin war es, die sie schließlich nach Florida geschickt hat. Dr. Miller, die sich ihre sonderbaren Albträume anhört und sich dann Sachen auf Blöcken aus gelbem Papier notiert.
    «Hier geht es nicht um Fakten, Chance», sagt sie. «Sondern um die Wahrheit. Der Unterschied ist Ihnen doch geläufig?»
    Also sitzt sie jetzt mit Deke hier in diesem zu weißen, von Neonlicht überfluteten Zimmer der Psychiatrischen Klinik von Tallahassee. In der Abteilung, wo man die Patienten unterbringt, die eine Gefahr für sich oder andere sind. Ungefähr so wie in einem Gefängnisfilm, denkt Chance, die engen schäbigen Zellen, die mit dickem Plexiglas abgetrennt sind, um die Normalen von den Wahnsinnigen zu isolieren. Miteinander reden können sie ausschließlich durch große schwarze Telefone mit Drehscheiben.
    «Bist du ganz sicher, dass du das wirklich willst?», fragt Deacon sie und klingt dabei besorgt und verwirrt.
    «Wir sind deshalb den ganzen Weg hierher gefahren», sagt sie.
    «Das spielt keine Rolle, ich wäre dir überhaupt nicht böse.»
    Doch da ist es schon zu spät. Eine dicke Frau in einer weißen Uniform bringt ein Mädchen zu dem Stuhl auf der gegenüberliegenden Seite des Plexiglases. Es muss noch ein Teenager sein und trägt Jeans und ein billigbuntes Disney-World-T-Shirt, Mickymaus und Pluto, als ob das nicht schon an sich absurd genug wäre. Einen Augenblick lang bringt Chance nicht mehr zustande, als dazusitzen und das Mädchen anzustarren, dessen Haut und Haare so weiß sind, dass sie fast durchsichtig erscheinen. Ihre Augen sind die eines weißen Kaninchens, leuchten in Rottönen von Pink bis Scharlachrot. Unsicher blickt es Chance durch die Sicherheitsbarriere aus Plexiglas an, blinzelt mit seinen schweren langen Lidern, die ein bisschen zu sehr herunterhängen, als dass das Mädchen ganz wach und bei sich sein könnte. Das liegt nur an den Tabletten, denkt Chance, was sie ihr hier drinnen auch immer verabreichen mögen.
    Chance will nach dem Hörer greifen, aber Deacon hat ihn bereits für sie abgehoben und legt ihn ihr in die zitternde Hand. Das Albinomädchen beobachtet sie wie eine hungrige Katze einen besonders unvorsichtigen Vogel, dann hebt es auch seinerseits den Hörer auf der anderen Seite ab. «Hallo», sagt Chance. «Hallo, Dancy, mein Name ist Chance.»
    «Hallo, Chance», sagt das Mädchen mit einem leichten Lallen. «Du kennst meinen Namen?»
    «Sie haben ihn mir gesagt. Die Pflegerinnen, meine ich.» Das Mädchen nickt einmal und betrachtet die Wachperson, die hinter ihr steht und aufpasst.
    «Die denken, sie wüssten alles», sagt sie. «Glauben, Gott käme jeden Morgen vom Himmel herab, um ihnen die Zeitung vorzulesen.»
    Deacon hält jetzt Chance’ Hand, hält sie ganz fest, als wäre er ebenfalls erschüttert, und das tut ihr gut. Vielleicht sollte es das nicht,
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