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Fossil

Fossil

Titel: Fossil
Autoren: Caitlín R. Kiernan
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der Schulter gleiten und legt ihn dann am Fuße der Mauer behutsam in den Matsch, ohne dabei die Hand von den Mauersteinen zu nehmen.
    «Hier unten wurde etwas gefunden, nicht wahr, Chance? Als dieser verdammte Tunnel gebaut wurde, haben sie dabei etwas aufgeweckt, es ist wie mit dem Karsttrichter bei der Hütte.» Sie fragt ihn nicht, welchen Karsttrichter er meint, wovon er eigentlich redet. Der Augenblick für solche Gespräche ist verstrichen, und falls die Antworten wirklich so einfach gewesen sein sollten, ist deren Gültigkeit ebenfalls abgelaufen, verschlungen von den Jahrzehnten, so wie der Tunnel das Licht vom Toreingang geschluckt hat.
    «Kannst du es spüren?», fragt sie, und das kann er bestimmt, wer wenn nicht Deacon Silvey könnte fühlen, wie es dieses lächerliche Hindernis durchdringt, es leckt durch die Zwischenräume zwischen den Atomen, als ob diese Steine nicht solider wären als ein Insektenschutz. Zeit und was Leute finden, die in der Zeit suchen, hat Sadie gesagt, und das ist nur der Anfang, denkt Chance, sie ist kilometerweit davon entfernt, wirklich zu begreifen, was sich hinter dieser Mauer verbirgt. Auch tausend Metaphern später wäre sie dem Kern keinen Deut näher, die leckende Stelle, an der zwei Welten aufeinandertreffen, Schwarzes Loch, Weißes Loch, eine Kreuzung, so könnte man es auch nennen.
    Früher hat man Selbstmörder an Kreuzungen beerdigt. «Scheiße», zischt Deacon, und als Chance sich nach ihm umsieht, zielt er mit dem Gewehr in die Dunkelheit, in die Richtung, aus der sie gekommen, oder die, in die sie noch nicht gegangen sind. Chance könnte beide unmöglich unterscheiden, es gibt dafür keinen Anhaltspunkt mehr, nur noch diese Mauer und die beiden schwachen Lichtkegel.
    «Verdammt, hast du das gehört?», fragt er, und sie schüttelt den Kopf.
    «Ich habe gar nichts gehört, Deacon.»
    Sie holt tief, tief Luft, dann zieht sie die Finger von der Mauer weg, und sie ist erstaunt, dass es ihr das gestattet, erstaunt, als sie die Steine nicht mehr berührt. Es musste mich nicht freigeben, es hätte mich für immer festhalten können. Hinter ihr lädt Deacon das Gewehr durch.
    «Falls du die Nummer durchziehen willst, Chance, tu es verdammt nochmal jetzt», sagt er. «Wir sind hier unten nicht allein.»
    Sie kniet sich in den Matsch, öffnet die Klappe des Rucksacks, aber sie ist sehr langsam dabei, so wie man in einem Albtraum davonrennt. So viel Anstrengung, so viel Mühe, und selbst diese kleinen Bewegungen sind fast mehr, als sie zu bewältigen vermag.
    «Seltsam langsames Land», sagt sie und zieht erst eine und dann noch eine Stange Dynamit aus dem Rucksack. «Siehst du, man muss schon sehr schnell laufen, um auf der Stelle zu bleiben.»
    «Du musst es einfach gehört haben», sagt Deacon. Und nach einer Pause: «Da, da ist es wieder. Irgendetwas steckt in den beschissenen Rohren.»
    Als Chance sechs Stangen Dynamit herausgeholt und sie wie Kerzen auf einem Geburtstagskuchen in den Matsch gesteckt hat, zieht sie aus der Tasche ihrer Jeans eine Rolle Isolierband. Damit bindet sie die Stangen zusammen und will anschließend noch so ein Bündel aus den anderen sechs Stangen machen, genau so, wie sie es schon vor Stunden genau geplant hat, sich alles genau überlegt hat, bis ins Detail. Das grüne Isolierband, das das Dynamit zusammenhält, und endlich muss sie nur noch eine helle Zündkapsel in jedes der Bündel stecken, den Kupferdraht mit den Zündkapseln verbinden, dann den Draht mit der Batterie…
    Doch das wird Zeit brauchen, und falls es die hier überhaupt gibt, verliert sie sie aus den Augen. Chance wickelt und wickelt und wickelt Isolierband um das erste Bündel, dreimal, die magische Zahl der Beschwörung, um das Böse zu bannen. «Du bist tot, du Arschloch», sagt Deacon hinter ihr. «Ihr seid alle tot.»
    Eine Minute oder auch eine Stunde später, wer weiß das schon, wenn die Sekunden so ineinander bluten, der eine Moment unterscheidet sich in nichts vom nächsten, und sie greift auf der Suche nach den Zündkapseln in den Rucksack. Die Mauer scheint zu erzittern, graue schmutzige Krümel Putz fallen herunter, und Chance hält inne, starrt direkt darauf, während Deacon die Geräusche verflucht, die sie nicht hören kann, Dinge, die sie nicht sehen kann.
    Da ist ein Trilobit, ein perfekt stachliger Dicranurus, münzgroß krabbelt er langsam über die Mauersteine, ein unerwarteter phosphoreszierender Schimmer an dem Ende der langen genalen und pleuralen
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