Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fossil

Fossil

Titel: Fossil
Autoren: Caitlín R. Kiernan
Vom Netzwerk:
eine Kurve gegangen sein», sagt er, aber Chance schüttelt den Kopf.
    «Nein, der Gang ist vollkommen gerade vom einen bis zum anderen Ende.»
    «Dann liegt es bestimmt daran, dass die Rohre im Weg sind.»
    «Das glaubst du genauso wenig wie ich», sagt sie und wünscht gleichzeitig, sie hätte den Kompass mitgebracht oder kräftige Nylonschnur, damit sie sich fest aneinanderbinden können.
    «Geh einfach weiter», sagt er. «Etwas anderes bleibt jetzt sowieso nicht mehr übrig.» Er versetzt ihr einen kleinen Schubs, nicht besonders stark, aber doch heftig genug, dass Chance die Füße aus dem Matsch freikämpft und sich wieder in Bewegung setzt. Einfach weitergehen, genau wie er es gesagt hat, sie hat ja genügend Licht genau hier in ihrer Hand, das ihr rein und weiß den Weg erleuchtet.
    «Sprich mit mir, Chance», sagt Deacon. «Erinnere mich noch einmal daran, was zum Henker wir hier eigentlich suchen.» Er versucht, seine Angst zu verheimlichen, das merkt sie, aber sie kennt ihn zu gut, als dass ihm das bei ihr gelänge oder sie sich selbst etwas vormachen könnte.
    «Eine Mauer. Eine Mauer aus Ziegelsteinen. Rechter Hand von uns, denke ich, auf der Westseite des Tunnels.»
    «Eine Mauer. Eine beschissene Steinmauer auf der rechten Seite.» Er stößt gegen Chance und entschuldigt sich, dann sagt er: «Also dann erklär mir die Felsen hier», sagt er. «Wie alt sind die?»
    Chance leuchtet wieder gegen die Decke des Tunnels, erleichtert, weil er das Thema gewechselt hat. Es geht ihnen beiden bestimmt besser damit, wenn sie jetzt nicht mit ihm bespricht, was sie auf der anderen Seite der Mauer erwarten mag, was Sadie ihr zugeflüstert und was ihre Großmutter nur angedeutet hat. Was die Arbeiter hier vor hundert Jahren gefunden haben und wogegen sie diese Mauer errichteten. Wovon sie etwas in eine Flasche mit Alkohol sperrten. Chance schaut also lieber auf die kastanienbraune Schicht über ihrem Kopf.
    «Gut, den Chickamauga-Kalkstein haben wir hinter uns gelassen und den Red Mountain erreicht. Wir befinden uns ganz unten im Silur, also sind diese Schichten ungefähr vierhundertdreißig Millionen Jahre alt. Die Steine um uns herum werden immer jünger, je weiter wir kommen.» Sie muss sich unterbrechen, um sich zu räuspern. Der fleischig-faule Gestank ist jetzt so stark, dass sie ihn schmecken kann, und Chance hätte gern eine Hand frei, um sie über den Mund zu halten.
    «Und nach dem Silur folgt das Devon-Zeitalter, richtig? Das hast du mir einmal erklärt, weißt du noch?»
    «Ja», sagt sie. «Aber ich bin schon erstaunt, dass du es noch weißt.»
    «Na, na, ich habe durchaus noch ein paar graue Zellen übrig, die habe ich nicht alle versoffen…»
    Ein Geräusch, hohl, hallend, als ob jemand mit einem Hammer gegen die Rohre schlägt, mit einem verdammten Vorschlaghammer darauf ballert. Ein Krach, so laut und durchdringend, dass er den ganzen Tunnel erfüllt, über sie hinwegrollt wie eine Meereswelle. Dabei lässt sich aber unmöglich entscheiden, woher das Geräusch kam, von vorn oder hinten.
    «Denk nicht drüber nach», sagt Deacon, aber ihr Kopf ist so voll von dem Lärm, dass Dekes Stimme weit, weit entfernt scheint. «Sprich mit mir, Chance. Was kommt als Nächstes, nach dem Devon.»
    «Das Mississipium kommt danach, Deke.» Sie bleibt so plötzlich stehen, dass er wieder in sie hineinläuft und sie diesmal dabei fast umwirft.
    «Das Mississipium», sagt sie noch einmal. «Die Maury-und Fort-Payne-Chert-Formationen.» Und hier endet ihr Vortrag, denn sie sind endlich an der Mauer angekommen. Eine unauffällige Steinmauer, vielleicht einen Meter zwanzig in der Breite. Chance legt das Gewehr auf eins der Rohre, streckt die Hand aus und streicht mit den Fingerspitzen sanft über das feuchte Mauerwerk. Die Steine und der Mörtel hier sind 1888 zusammengefügt worden, als ihr Urgroßvater noch ein junger Mann war und Birmingham nur aus ein paar ungepflasterten Straßen bestand, nichts weiter war als eine kohlenstaubbedeckte Ansammlung von Hochöfen und Bergarbeitercamps.
    «Scheiße, da ist es ja», sagt Deacon irgendwo dicht hinter ihr.
    «Ja, hier ist es», antwortet sie. Ihre Finger hat sie immer noch gegen die Mauer gepresst, und sie sind inzwischen mehr als nass, mehr als kalt, für dieses Gefühl hat sie keinen Namen, weil sie es sich noch nie vorgestellt hat. Wächsern, denkt sie und versucht es so doch zu beschreiben, aber wächsern kommt der Sache nicht einmal nahe.
    Sie lässt den Rucksack von
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher