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Fortunas Odyssee (German Edition)

Fortunas Odyssee (German Edition)

Titel: Fortunas Odyssee (German Edition)
Autoren: Eliane Reinert
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in die zweite Klasse und konnte bereits lesen und schreiben.
    Zu jenen Zeiten kamen die Kinder mit sieben Jahren in die Schule, und viele von ihnen hatten vorher nie Kontakt zum Alphabet oder zu Ziffern gehabt, weil ihre Eltern Analphabeten waren. Das war bei uns zum Glück nicht der Fall.
    Wir kamen in der Schule an. Während Fred bis zum Ende des Flurs lief, klopfte Tim an die Tür auf der »2. Klasse« geschrieben stand. Ich blieb an seiner Seite wie ein persönlicher unsichtbarer Beschützer. Seine Haare glänzten im Sonnenlicht, während er abwartend vor der Tür stand.
    Ich schaute auf den Stoffbeutel, den Mama für ihn genäht hatte. Alles, was ich bis jetzt gesehen hatte, war harmonisch. Alles passte zusammen, und der technische Fortschritt schien niemandem zu fehlen. Wie sollte man auch etwas vermissen, das man nicht kannte? Heute könnte ich mir ein Leben ohne die elektrischen Geräte, die es damals nicht gab, nicht mehr vorstellen.
    Die Tür öffnete sich nur so weit, dass sie das Gesicht der Lehrerin freigab, die streng auf den Jungen schaute, der sich wegen seiner Verspätung schämte.
    »Gleich am ersten Tag zu spät!«
    Er stotterte, konnte aber nichts erwidern.
    »Na, komm rein.«
    Sie zog ihn förmlich hinein und deutete auf eine leere Schulbank. Die Mitschüler beobachteten ihn neugierig, während er sich hinsetzte. Einige von ihnen kannten ihn aus der ersten Klasse und wussten, wer Tim Ligier war.
    Die Frau lächelte nicht und forderte ihn auf, sich vorzustellen. In diesem Moment fiel es mir wieder ein: Diese Frau hatte keine Geduld mit Kindern und war immer unfreundlich. Es schien, als litte sie ständig unter irgendwelchen Beschwerden. Bevor er aufstehen konnte, um sich vorzustellen, klopfte jemand an die Tür. Die Lehrerin öffnete und sprach einige Minuten mit einer älteren Frau – später erfuhr ich, dass es die Schulsekretärin war – während die Kinder schwatzten und lachten. Ein Junge ging auf Tim zu, gab ihm eine Ohrfeige, schnitt eine Grimasse und brüllte:
    »Verspätet!«
    Der Junge war rothaarig und dick und hatte eine Verletzung im Mundwinkel. Er führte die Befehle des »Chefs« aus, der hinten in der Klasse seine Kommandos ausgab. Der Chef der »Starken Bande« galt in der Schule als gefährlich. Er war ein Junge, der nachts immer noch ins Bett nässte, von seinem Vater geschlagen wurde und seine Aggressionen an seine Mitschüler weitergab, selbst wenn sie nur miteinander spielten. Seine grünen Augen standen im Kontrast zu seiner dunklen Haut; seine Arme waren auf seltsame Weise muskulös für einen Jungen dieses Alters. Er war sitzen geblieben, und einige hatten Angst vor ihm, andere jedoch verachteten ihn. Tim hatte keine Angst und zeigte offen seine Missachtung.
    Er schnitt ebenfalls eine Grimasse, streckte dem Dickerchen die Zunge heraus und erhielt noch eine schallende Ohrfeige.
    Die Lehrerin schloss die Tür mit einem Knall, kam auf ihn zu und zog ihn am Ohr.
    »Auf die Knie! Ich werde dir Benehmen beibringen!«
    Tim musste sich mit dem Gesicht zur Wand in die Ecke hinter der Tür knien und lange Zeit in dieser Stellung verbleiben. Unglücklicherweise verließ die Lehrerin zwischendurch die Klasse und ich sah, wie auf Befehl des Chefs viele Papierkugeln auf seinen Rücken geworfen wurden, begleitet von Beschimpfungen.
    Ich hatte Mitleid mit ihm, denn ich sah, wie seine Ohren rot vor Scham wurden.
    In der zwanzigminütigen Pause, in der die Kinder die von der Schule angebotene Mahlzeit einnahmen, schämte er sich, die Klasse zu verlassen und blieb mit zitternden Händen auf seiner Schulbank. Ein Mädchen kam auf ihn zu.
    »Komm mit nach draußen. Verzichte nicht auf die Pause wegen dem Pinkel-João.«
    »Pinkel-João?«, fragte er und kreuzte die Arme auf dem kleinen Pult.
    »Ja, er pinkelt bis heute noch ins Bett.«
    »Woher weißt du das?«
    »Ah, ich bin seine Nachbarin und sehe, wie das Hausmädchen jeden Morgen seine Matratze zum Trocknen in die Sonne stellt und zu ihm ‚du kleiner Pisser’ sagt.«
    João, der Chef, war in Tims schwarze Liste aufgenommen.
    Er lachte, stand auf, und beide gingen zusammen zur Essensausgabe.
    »Wie heißt du?«
    »Micaela«, antwortete sie und danach sagte sie lachend: »Alle in der Klasse kennen deinen Namen, wegen der Strafe, die du erhalten hast.«
    Sie nahmen die verbeulten Aluminiumteller mit Suppe, die auf ihre Hände schwappte, und setzten sich zusammen hinten in den Speisesaal.
    João schaute auf Tim und flüsterte zwei Jungen
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