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Fortunas Odyssee (German Edition)

Fortunas Odyssee (German Edition)

Titel: Fortunas Odyssee (German Edition)
Autoren: Eliane Reinert
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schliefen. Danach ging sie zurück, legte sich ins Bett und versuchte zu schlafen. Aber es gelang ihr nicht, und so ging sie die Treppe hinunter, trank ein Glas kalte Milch und weinte lautlos.
    Er kam im Morgengrauen zurück und tat so, als sei er betrunken, um lästige Fragen zu vermeiden. Stunden später erfüllten ihn Scham und Reue, und beim Rasieren vermied er, seinem eigenen Blick im Spiegel zu begegnen - vermutlich ängstigte er sich, dass er seine Seele erkennen könnte. Unzufrieden über seine eigene Schwäche, versuchte er, sein Verhalten mit Geschenken zu kompensieren.
    Jeden Monat kam eine Bestellung ins Haus. Mama freute sich und küsste ihn zärtlich.
    Am zweiten Schultag beeilte sich Tim, das Haus vor Fred zu verlassen. Auf der Straße versteckte er sich hinter einem Busch. Minuten später kam er mit einem Kasten Kreide und einem teuflischen Lächeln wieder dahinter hervor. Später war die ganze Klasse Zeuge, als die Lehrerin in hysterisches Geschrei ausbrach, nachdem sie ihre mit Fäkalien verschmierten Finger aus der Kreidekiste gezogen hatte. Während ein Teil der Klasse über diese Szene lachte, blieben die anderen Kinder aus Angst vor Strafe stumm. Sie wussten nicht, ob sie diesen Streich Tim oder João zuschreiben sollten. Während die Lehrerin angeekelt aus der Klasse lief, um sich die Hände zu waschen, ging Tim nach vorn und malte mit Kreide einen Galgenstrick an die Tafel. Alle rissen die Augen auf. Ihm wurde die Ungeheuerlichkeit der Botschaft bewusst, er wischte die Zeichnung wieder aus und setzte sich wie ein Unschuldsengel auf seinen Platz.
    »Ich kriege den, der das getan hat!«, schrie die Lehrerin mit sich überschlagender Stimme, als sie zurückkam.
    Nach diesem Tag sah ich öfter, wie Tim auf Ameisenstraßen trat, Enten ertränkte, Vögeln die Flügel stutzte und Blumen aus den Anlagen riss. Mehrmals erschreckte sich seine Lehrerin fast zu Tode, als sie in ihrer Schublade lebende Kakerlaken oder Ratten antraf. Bei all diesen Übeltaten konnte ich mich weder wiedererkennen noch Stolz empfinden. Es war seltsam, dass ich mich nicht einmal im Moment des Geschehens daran erinnern konnte.
    In diesem ersten Jahr meiner Reise begleitete ich Tim und Fred auf dem Schulweg, sah die Provokationen von Pinkel-João, sah den Unfug, den die Kinder anrichteten, erlebte ihr Gelächter, wenn sie sich nach der Schule vergnügten. Einige Kinder schoben ihre alten Fahrräder, andere gingen zu Fuß, jedoch waren alle glücklich. Es waren arme, unruhige, kluge, allerdings ausnahmslos glückliche Kinder.
    Ich setzte mich auf das Sofa zu Mama und beobachtete sie beim Sticken. Sie summte einige Schlager, die damals en vouge waren, vor sich hin, und ich schloss die Augen, um zuzuhören und den Zauber des Augenblicks zu genießen. Vorher schaute ich Tereza in der Küche zu, wie sie Brot und Kuchen backte und dabei Selbstgespräche führte. Dabei bemerkte ich, dass sie viel kleiner war, als ich sie in Erinnerung hatte. Wenn sie an der Spüle stand, fiel mir zuerst immer ihr riesiger Hintern auf, der fast den Tisch berührte, an dem wir saßen. Zwischen ihren Hintern und den Tisch passte nicht mal ein Blatt Papier, und wenn Papa versuchte, etwas aus dem Regal über der Spüle zu holen, schimpfte und gestikulierte sie, wobei die Spülmittelflocken in alle Richtungen flogen. Er lachte, denn er mochte es, wenn sie so tat, als sei sie wütend.
    Ich durchwühlte Schubladen, öffnete Schränke, sah mir stundenlang Fotoalben an, berührte die Kleider an der Wäscheleine. Freds Hosen und Hemden wurden von Tim weitergetragen. Manchmal wurde er mit Fred verwechselt, nur weil er jenes Hemd trug, das er vor einem Jahr getragen hatte. Das störte ihn nicht, er war sogar glücklich, weil Mama sagte, er würde ihr beim Sparen helfen.
    In diesem ersten Jahr geriet ich immer wieder in Rage, weil João nie zur Rechenschaft gezogen wurde, wenn er dabei erwischt wurde, wie er Tim provozierte. Ich entdeckte bei ihren Gesprächen mit der Direktorin, dass sie Angst vor möglichen Reaktionen seines Vaters hatte.
    Das Schlimmste war, das Tim das Lieblingsopfer der Bande war. Einmal nahmen sie ihm die Früchte weg, die Tereza ihm in den Ranzen gesteckt hatte. Ein anderes Mal nahmen sie das Stück Möhrenkuchen und zertraten es auf dem Schulhof, während er von Weitem gedemütigt zuschaute und nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. Er ging weg und ließ seine Wut an wehrlosen Tieren und Pflanzen aus.
    Einmal schlug João Tim, als er
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