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Fortunas Odyssee (German Edition)

Fortunas Odyssee (German Edition)

Titel: Fortunas Odyssee (German Edition)
Autoren: Eliane Reinert
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Kinder können Sie weder sehen noch hören, aber Sie können ihre Gefühle verstehen, die Geschehnisse mitverfolgen und sie so erleben, als würden Sie sie zum ersten Mal erleben.«
    »Und dieses Kind?«, ich zeigte auf Tim.
    »Es ist Ihre andere Hälfte.«
    »Es ist also kein ganzer Mensch?«
    »Einen Moment«, schränkte er ein und machte ein Handzeichen. »Sie sind hier, genauso wie das Kind. Es sind also beide Hälften anwesend. Dieses Kind fühlt nicht, was Sie fühlen und weiß nicht, was Sie wissen, aber umgekehrt sieht die Sache anders aus.«
    »Wollen Sie damit sagen, ich kann fühlen, was das Kind fühlt?«
    »Haargenau.«
    »Aber ich kann nicht voraussehen, was in einer Minute passieren wird?«
    »So ist es.«
    Ich runzelte für einige Sekunden die Stirn, das alles war für mich ein wirres Durcheinander.
    »Deswegen erinnere ich mich nicht mehr an alle Fakten… und Orte.«
    »Weder an Dinge, die schon geschehen sind, noch an die, die noch geschehen werden, solange Sie hier sind.«
    Ich schlug mit der Faust in die Luft.
    »Aber ich will mich an die Fakten erinnern und wissen, was passieren wird! Nur als Zuschauer kann ich nicht einschreiten, also, was soll ich hier?«
    Zu meiner Überraschung sagte dieser Mistkerl, den ich mittlerweile aber irgendwie mochte:
    »Wollen Sie wieder zurück, Tim?«
    Um nichts in der Welt wollte ich diese Reise jetzt abbrechen. Aber ich gebe zu, dass es nicht leicht war, mich zu beherrschen, denn das Verlangen war groß, diesen Pseudo-Hexer zu erdrosseln. Jedenfalls war das meine Vorstellung: Ein Wesen, das uns hilft, wenn wir es aufsuchen, weise und großzügig. Aber nichts davon erkannte ich in diesem Nichtsnutz an meiner Seite.
    Dass ich nicht in die Geschehnisse eingreifen konnte, war einfach zu viel für mich.
    Ich beachtete ihn nicht mehr und setzte mich wieder hin, um die Kinder zu beobachten. Sie planschten im Wasser, lachten über jede Kleinigkeit und liefen an dem kleinen See entlang.
    Sie waren glücklich. Die Welt der Kinder ist noch nicht kontaminiert, auch wenn sie nicht immun gegen das Übel ist.
    Als sie nach Hause gingen, waren sie nass, glücklich und voller Lebenslust.
    Ich verließ sie und unternahm einen Spaziergang durch meine Stadt: Madrigal. Ich sah Häuser mit kleinen Fenstern und engen Türen, Leitungsmasten aus Holz, Straßen mit Kopfsteinpflaster, das in den letzten Sonnenstrahlen rot schimmerte, ein immer wieder idyllisches Bild, das ich niemals missen möchte.
    Nach der Erfahrung mit dem Lottobetrug ging Papa nach der Arbeit nicht mehr direkt nach Hause. Ich begleitete ihn auf seinem Weg, der in schmuddelige Kneipen wie den Mercadinho do Genésio führte, dessen Besitzer ein unangenehmer Mann war, und von dort ins am Stadtrand gelegene Bordell Fiore. Die Leiterin des Bordells war eine zwielichtige Gestalt, und ihr Etablissement war die Möglichkeit zur Untreue der Hälfte aller Männer der Stadt - die andere Hälfte hatte keine Frau der sie untreu sein konnte, doch das Bordell mied niemand. Die Männer bezahlten für die Wollust mit gesichtslosen Gespielinnen, die sie nach einer Nacht der fieberhaften Sinnlichkeit am nächsten Tag auf der Straße kaum erkannten.
    Diese Frau beutete junge Mädchen aus zerrütteten Familien aus, die sich aus irgendeinem Grund, meist war es drückende Armut, dazu entschlossen hatten sich zu verkaufen. Auf der einen Seite gab es die Besitzerin des Freudenhauses, eine alte Prostituierte, eine mutige, aber kaltherzige Frau, für die nur das pekuniäre von Belang war. Auf der anderen Seite war sie angewiesen auf nächtliche Herumtreiber mit leeren Herzen und erregten Körpern. Und schließlich bildeten die Prostituierten, Mädchen und Frauen, bedürftige Seelen, die dritte Komponente für ein Dreiecksverhältnis der Hassliebe. Das Bordell war ein Schmelztiegel von Wolllust, Gier und unglücklichen Menschen, die trotzdem manchmal ach so menschlich waren.
    Papa gab sein Geld am Eingang ab, ging die Treppe hinauf, klopfte an die Tür und trat ein. Es war immer dasselbe junge Mädchen, das ihn in seine Arme nahm, seinen alkoholhaltigen Atem roch, mit seinen Fingern durch seine ungekämmten Haare fuhr und ihm den Schweiß auf der Stirn trocknete. Die Nacht verging ohne viele Worte, und er verließ den Ort mit denselben torkelnden Schritten, mit denen er gekommen war, aber jetzt aus Müdigkeit. Ich hatte Mitleid mit Mama, die immer wieder zum Fenster lief, und von dort zum Kinderzimmer, um sich zu vergewissern, ob die Kleinen
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