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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu
Autoren: Stephan Serin
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drastischer in Erinnerung gerufen, als das Werner-Heisenberg-Gymnasium
     einer von den viergeschossigen Plattenbauten aus Stahlbeton war, in denen viele Ostberliner Schüler – auch ich – bis zur Wende
     unterrichtet |30| worden waren. Nur hatte es eben mittlerweile zwei offenbar unrenovierte Jahrzehnte mehr in den Gliedern. Wie auch die zahlreichen
     Lehrer, die hier bereits vor dem Mauerfall tätig waren und die am sprachlichen Niedergang in ihrem Arbeitsumfeld ebenso hätten
     Anstoß nehmen müssen wie ich. Doch bei den gestandenen Kollegen stieß ich mit meinen Klagen auf taube Ohren. Niemanden schienen
     die Sprachprobleme der Schüler noch aufzuregen. Alle verschanzten sich hinter einem nach außen gekehrten Pragmatismus, der
     in Wirklichkeit Gleichgültigkeit kaschierte. Frau Willing, eine unserer Deutschlehrerinnen, meinte: «Man darf von einem Schüler
     der Oberstufe nicht zu viel verlangen. Man muss sich auf die heutigen Jugendlichen einstellen. Meine Klausuren bestehen daher
     einzig aus Ankreuzaufgaben. In ganzen Sätzen schreiben zu lernen, dafür gibt es schließlich die Uni.»
    Andere verlangten von ihren Schülern nicht einmal mehr Deutsch zu sprechen, solange sie überhaupt irgendeine Sprache benutzten
     – auch wenn sie als Lehrer diese gar nicht verstanden. Es musste nur ein Schüler der Klasse mit derselben Muttersprache bezeugen,
     dass die Äußerung richtig war. Meiner Fassungslosigkeit begegnete keiner der Kollegen mit Verständnis: «Seien Sie doch froh,
     dass die Schüler überhaupt antworten. An anderen Schulen würde man Sie abstechen, wenn Sie die ansprechen. Außerdem hat es
     einen Vorteil, wenn die Schüler kaum Deutsch beherrschen. Wollen Sie mit Kollegen über die herziehen, müssen Sie das nicht
     heimlich tun. Verwenden Sie einfach Nebensätze. Und schon wird Sie keiner der Schüler verstehen.»
    Auch wenn mich dieses Desinteresse am sprachlichen Vermögen der Jugendlichen anfangs sehr empörte, wurde mangels Erfolg selbst
     bei mir der Widerstand dagegen mit der Zeit schwächer, denn mein Aufbäumen war ein einsamer und vergeblicher Kampf gegen Windmühlenräder.
     Irgendwann fand ich mich ebenfalls |31| damit ab, dass sich die Schüler schlechter ausdrückten als sie sollten, indem ich mir einredete, sie würden sich einfach
anders
ausdrücken. Und folglich gab auch ich mich schließlich mit Ein-Wort-Antworten zufrieden. Bezeichnete ein Schüler im Unterricht
     Wilhelm   II. als
Vollhoden
, dann deutete ich das großzügig dahingehend, dass er die kriegstreibende Rolle des letzten deutschen Kaisers sehr wohl begriffen
     hatte. Immerhin ermöglichte mir diese neue Aufgeschlossenheit meinerseits, einige jugendsprachliche Begriffe kennenzulernen,
     die mir mit meiner ursprünglichen Haltung wohl entgangen wären.
    Angesagte Musiker wurden als
endgeil
,
porno
,
tight
oder
mörder
bezeichnet, Stars, die out waren, als
voll assig
. Einen Schüler, der sich am unteren Ende der Klassenhierarchie befand, sah man als
Opfa
oder als
Toy
. Lehrer waren
schizo
und wurden wegen ihres Alters
Kadaver
genannt, in einer größeren Ansammlung als
Krampfadergeschwader
. Der immer elegant gekleidete und mit spitzen Lippen und distinguiert schrägem Kopf durch die dreckigen Flure eilende Herr
     Menz war wegen seiner Homosexualität
voll gaylord
. Ich wurde aufgrund meiner Größe abwechselnd als
Bonsai
oder
Nabelküsser
tituliert. Herr Rauter, der zu viel redete,
föhnte
die Schüler
zu
. Die magenkranke und auch sonst überall leidende Frau Flach hatte
Mundgulli
und
Gesäßhusten
, also einen schlechten Atem und Blähungen. Für Menschen mit Pickeln wurden alternativ die Bezeichnungen
Akne-X
und
Clearasil-Testgelände
benutzt.
    Natürlich bemühte ich mich darum, mir diese Begriffe nicht zu eigen zu machen, mich weiterhin korrekt und in ganzen Sätzen
     zu artikulieren. Dennoch hinterließ die Sprache meiner Berlin-Mitte-Schüler bei mir Spuren. Das merkte ich aber erst, als
     ich nach dem Referendariat für eine kurze Zeit eine Stelle als Vertretungslehrer am Kant-Gymnasium in Zehlendorf annahm. Die
     sehr aufmerksamen und früh geförderten Arzt-, Psychologen- und |32| Anwaltskinder im Französischunterricht waren ziemlich verwundert, als ich sie in der ersten Stunde darum bat, im zu lesenden
     Text alle Wörter mit unterschiedlichen Farben zu markieren und ihnen anbot, beim Sprechen und Schreiben einfach Verben und
     Artikel wegzulassen, weil die Sprache dadurch einfacher würde. In meinem
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