Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu
Autoren: Stephan Serin
Vom Netzwerk:
Spontanität
     eines Schülers gesegnet gewesen, hätte ich ihr ein Papierkügelchen an den Hinterkopf geworfen, damit sie sich umdrehte und
     ich sie besser
abchecken
konnte. Dann hätte sie mich ebenfalls gleich mustern können. Würde sie mich zu den attraktiven Referendaren zählen oder zu
     den unattraktiven? Nicht so einfach zu beantworten, denn unter den Männern war die Konkurrenz etwas größer. Der Kerl mit den
     schulterlangen, hellblonden Haaren drei Reihen vor mir war immerhin ein Typ, wahrscheinlich ein Künstler, der nur deshalb
     Lehrer werden wollte, weil er von seiner Kunst nicht leben konnte. Und es gab auch noch einige andere, die nicht danach aussahen,
     als sei Lehrer ihr Wunschberuf. Vor allem der Braunhaarige mit den tätowierten Armen und dem |37| Nasenpiercing. Der kam bei Frauen sicherlich gut an. War zudem recht sportlich, das konnte man durch sein rotes Hemd hindurch
     erkennen. Und er trug im Gegensatz zu mir keine Brille und keine orthopädischen Schuhe. Würde das für die Dunkelblonde ins
     Gewicht fallen? Er schien sie bereits ebenfalls wahrgenommen zu haben. Denn immer wieder wanderte sein Blick zu ihr hinüber.
     Ich hatte aber nun keine Zeit mehr, mich eingehender mit der Frage unserer Chancen zu beschäftigen, denn zwei Herren betraten
     den Raum.
    Ein noch recht jugendlich erscheinender dunkelhaariger Mann in Jeans, weißem Hemd und aufgeknöpftem, hellbraunem Sportsakko
     mit dynamischem Schritt. Und ein Herr ziemlich fortgeschrittenen Alters, groß gewachsen, grauhaarig, goldgerahmte Brille,
     in dunkelbraunem Anzug aus Baumwollgabardine und mit mustergültig gebundener rot-blau gestreifter Krawatte. Seine schlanke
     Statur kontrastierte mit der Behäbigkeit seiner schweren Bewegungen. Sein ganzer Habitus versprühte den Charme eines Musterbeamten,
     für den Paragrafen immer Vorrang hatten vor emotionalen Regungen oder dem Menschen.
    «Guten Tag, meine Damen und Herren», ergriff er das Wort und stellte sich als Herr Schubert vor, Leiter des 1.   Schulpraktischen Seminars. Danach kam sein jüngerer Kollege dran, Herr Müller, Leiter des 2.   Schulpraktischen Seminars. Hier wurden also heute sogar zwei Seminargruppen vereidigt. Und ich hatte den allem Anschein nach
     deutlich unangenehmeren Seminarleiter erwischt. Denn wie ich aus einem Schreiben der Senatsverwaltung wusste, war ich in Herrn
     Schuberts Seminar. Seiner sich anschließenden abgelesenen Rede über das Bild des Lehrers in der Öffentlichkeit und die Rechte
     und Pflichten, die mit diesem Beruf einhergingen, schenkte ich kaum noch Aufmerksamkeit, so sehr war ich damit beschäftigt,
     mich selbst zu bemitleiden und die zu beneiden, die zu Herrn Müller durften.
    |38| Ich kam erst wieder richtig zu mir, als wir von Herrn Schubert aufgefordert wurden, uns zu erheben, um den Diensteid abzuleisten :
Ich schwöre, dass ich mein Amt getreu dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und der Verfassung von Berlin in
     Übereinstimmung mit den Gesetzen zum Wohle der Allgemeinheit ausüben und meine Amtspflichten gewissenhaft erfüllen werde;
     so wahr mir Gott helfe.
    Obwohl nicht gläubig, sprach ich den Eid bis zum Ende mit, kreuzte aber hinter meinem Rücken Zeige- und Mittelfinger der rechten
     Hand, um mich von dieser religiösen Vereinnahmung zu distanzieren.
    Nach dem Eid riefen Herr Schubert und Herr Müller ihre Referendare abwechselnd in alphabetischer Reihenfolge auf, um ihnen
     die Urkunden auszuhändigen. Während Herr Müller jedem mit einem aufmunternden Lächeln das Dokument aushändigte, blieb Herrn
     Schuberts Gesicht verbindlich ernst, so, als sollten wir gar nicht erst auf die Idee kommen, in den nächsten zwei Jahren würde
     eine angenehme Zeit auf uns warten.
    Durch das Aufrufen erfuhr ich auch, dass die hübsche Dunkelblonde Sarah Weinert hieß und leider zur Seminargruppe von Herrn
     Müller gehörte. Die Magersüchtige hingegen war in meinem Seminar, aber immerhin auch der langhaarige vermeintliche Kunstreferendar   – Lutz Ebert war sein Name – sowie der Tätowierte, André Groll, der, was ich wenige Minuten darauf im Gespräch mit ihm erfahren
     sollte, ebenfalls am Werner-Heisenberg-Gymnasium unterrichten würde. André schien über die Seminarzuteilung ebenfalls unglücklich
     zu sein, denn als Sarah Weinert von Herrn Müller nach vorne gerufen wurde, entfuhr ihm ein leises
Fuck
. Offenbar war er Englischreferendar.
    Als Einziger im Raum erhielt ich von Herrn Schubert meine
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher