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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu
Autoren: Stephan Serin
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  Durch eine weitere Rechtsdrehung wiederum bis zum Fingeranschlag   …»
    Für den Austausch von Telefonnummern musste man viel Zeit einplanen. Darum verzichteten in der DDR die meisten freiwillig
     auf dieses Medium. Es entsprach einfach nicht unseren praktischen Kommunikationsbedürfnissen. Lieber fuhr man kurz von Berlin
     nach Dresden. Das ging schneller.
    Verständlicherweise irritierte mich die nachlässige bis fehlerhafte Ausdrucksweise der Menschen aus den alten Bundesländern
     auch noch lange nach dem Mauerfall. Zehn Jahre sprachlicher DD R-Sozialisation konnte und wollte ich nicht so einfach abschütteln. So war mir an all meinen Freundinnen aus dem Westen auch immer unangenehm
     aufgefallen, dass sie beim Sex bestenfalls einzelne Worte stöhnten. Oft hatte ich unser Liebesspiel deshalb unterbrechen müssen
     und sie gebeten, das Stöhnen zu wiederholen – und zwar im ganzen Satz. Daran war manche Beziehung gescheitert. Bei meinen
     Schülern musste ich noch häufiger intervenieren. Eigentlich konnte ich am Werner-Heisenberg-Gymnasium keine Äußerung einfach
     so stehen lassen. Das führte regelmäßig zu ausgedehnten Lehrer-Schüler-Pingpongs:
    «Cemal! Erläutere mir bitte, wie der Humanismus dazu beitrug, dass die Europäer damals unbekannte Regionen und Kontinente
     entdeckten.»
    «Kolumbus.»
    «Cemal, bitte antworte im ganzen Satz!»
    «Wegen Kolumbus.»
    «Das ist noch kein ganzer Satz, Cemal.»
    «Doch!»
    «Nein, da liegst du falsch.»
    |28| Über diese Streitfrage in der Klasse abzustimmen, hätte Cemal zu einem Kantersieg verholfen, weshalb ich auf solche plebiszitären
     Elemente verzichtete und lieber fortfuhr, ihn zu triezen. «Welches Element gehört denn in einen Satz?»
    «Weisnisch!»
    «Jeder Satz braucht ein Verb. Ein Tuwort. Also: Was tat Kolumbus?»
    «Amerika!»
    «Das ist kein Verb, aber sicherlich auch eine Information, die in den Satz gehört. Also, ich fasse mal zusammen:
Wegen Kolumbus Amerika
. Nun zum Verb: Was hat Kolumbus denn getan, um nach Amerika zu gelangen?»
    «Mit Schiff.»
    «Okay, halten wir fest:
Wegen Kolumbus Amerika mit Schiff
. Was hat er denn mit dem Schiff gemacht, um nach Amerika zu gelangen?»
    «Gefahren!»
    «Also:
Wegen Kolumbus Amerika mit Schiff gefahren.
Ist es dass, was du sagen wolltest?»
    «Ja.»
    «Dann wiederhole bitte:
Der Humanismus trug zur Entdeckung unbekannter Regionen und Kontinente bei, weil Kolumbus mit dem Schiff nach Amerika gesegelt
     ist
.
»
    «Der Humanismus trug zur Entdeckung bei von Regionen äh   …, weil Kolumbus nach Amerika gesegelt ist, äh   … also mit ’nem Schiff.»
    «Sprachlich ist das jetzt so weit in Ordnung, inhaltlich aber trotzdem falsch. Leider ist die Stunde nun zu Ende. Überlegt
     euch bitte bis zum nächsten Mal, wie die Antwort hätte richtig lauten müssen!»
    Dieses Beispiel gehörte noch zu den Erfolgserlebnissen. Normalerweise wurde ich gar nicht verstanden, zumal wenn ich die |29|
Operatoren
– also die Verben mit Aufforderungscharakter – verwendete, die uns unsere Ausbilder aufnötigten.
    « Ermittelt
bitte aus dem Text, was die Ursachen für den Aufstieg der NSDAP waren.»
    «Wasis ermitteln?»
    «Das heißt so viel wie rausholen. Informationen aus dem Text rausholen.»
    «Escht krass! Wieisch Informationen aus Text holen. Habisch Schere?   … Nee!»
    Oder:
« Beurteilt
bitte, ob Hitler die Macht ergriffen hat oder übertragen bekam.»
    «Wasis beurteilen?»
    «Zu einer Frage eine begründete Meinung formulieren.»
    «Ischhasse Hitler.»
    Mein Unterricht war ein täglicher Kampf um das Einhalten sprachlicher Minimalstandards. Stofflich kam ich kaum voran. Wenn
     ich die Schüler im Französischunterricht aufforderte, einen dreihundert Wörter umfassenden Text zu lesen und alle Adjektive
     zu unterstreichen, die Gefühle ausdrücken, scheiterte ich daran, dass die Schüler nicht mal im Deutschen wussten, was eigentlich
     Adjektive waren und durch welche Begriffe Gefühle ausgedrückt werden konnten. So begnügte ich mich am Ende damit, dass die
     Schüler im Text einfach
alle
Wörter unterstrichen, aber für jedes eine andere Farbe benutzten. Ich begründete das ihnen gegenüber damit, dass sie zunächst
     lernen sollten, wo im Französischen das eine Wort aufhöre und wo das nachfolgende anfange.
    Natürlich befriedigte mich das nicht. Das war nicht der Unterricht, den ich mir vorgestellt hatte. Der sprachliche Kontrast
     zu meiner eigenen Kindheit wurde mir jeden Tag umso
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