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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu
Autoren: Stephan Serin
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Ihre Urinprobe
     untersucht und darin Leukozyten gefunden.»
    |19| Leukozyten? Leukozyten? Was war das noch? Auf jeden Fall irgendwas Schlimmes. Das hatte ich irgendwo gehört, gelesen oder
     gesehen. Ich wusste, was das war, aber kam nicht drauf.
    Natürlich wollte ich mir vor ihr nicht die Blöße geben und mich offen nach Leukozyten erkundigen. Dann hätte sie eine Bildungslücke
     vermutet, obwohl ich mich in Wirklichkeit lediglich nicht an mein Wissen erinnerte. Darum fragte ich nur indirekt: «Habe ich
     etwa Aids?»
    «Nein! Außerdem kann man das auf Grundlage dieser Untersuchung nicht sagen.»
    So beruhigend ihre Antwort für meine Lebenserwartung war, so wenig erhellend war sie im Hinblick auf mein Leukozyten-Blackout.
     Natürlich hätte ich zu Hause im Internet recherchieren können, aber ich wollte es sofort wissen. Außerdem schaute mich Frau
     Dr.   Jost so an, als erwarte sie ob dieses medizinischen Scoops eine angemessene Reaktion von mir. Ich hakte darum nach, wieder
     verklausuliert: «Was kann denn die Ursache für die Leukozyten im Urin sein?»
    Eigentlich hätte diese trickreiche Gesprächsführung der Ärztin die Information, auf die ich aus war, entlocken müssen, ohne
     dass sie es merkte. Selbst Verhörspezialisten des sowjetischen Geheimdienstes hätten ob meines geschickten Vorgehens vermutlich
     anerkennend den Hut gezogen. Doch Frau Jost stellte sich stur und reagierte mit einer Gegenfrage:
    «Na überlegen Sie mal selber, junger Mann! Wo kommt denn Urin her?»
    War ich hier in einem Quiz? Wollte sie mich auf den Arm nehmen? Wo Urin herkam?! Was für eine Kindergartenfrage. Ich konnte
     mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, als ich zu ihr meinte: «Tut mir leid. Aber das weiß ich nicht.»
    Sie war nicht zu Scherzen aufgelegt. In ihrem Blick lag abgrundtiefe Fassungslosigkeit.
    |20| «Das wissen Sie nicht?»
    «Doch, doch!», beteuerte ich. «Urin kommt aus der Blase.»
    Sie war immer noch nicht zufrieden. Was wollte sie denn hören?
    «Wir sind hier nicht in der Grundschule, junger Mann!»
    Genau! Wir waren nicht in der Grundschule. Aber wie in der Grundschule fühlte ich mich gerade behandelt.
    «Wo bildet sich denn der Urin?»
    «Na, hab ich doch schon gesagt, in der Blase.»
    «Herr Serin!» Sie schien mittlerweile regelrecht verärgert zu sein. Eine gestrenge Furche vom Haaransatz zum Nasenrücken spaltete
     nun ihre Stirn in eine rechte und eine linke Hälfte. Woher sollte ich denn so etwas wissen? Ich hatte doch Französisch und
     Sozialkunde studiert, nicht Medizin oder Biologie. «Was haben
Sie
bloß für eine Allgemeinbildung? Und
Sie
wollen unterrichten? Also, ich möchte nicht Ihre Schülerin sein.» Das traf sich gut, denn ich hätte auch nicht ihr Lehrer
     sein wollen. Doch sie konnte einfach keine Ruhe geben: «Was wollen Sie denn Ihren Schülern erzählen, wenn die Sie mal fragen,
     wo der Urin herkommt?»
    Diese Situation hielt ich für sehr unwahrscheinlich. Damit musste wohl eher ein Biolehrer rechnen. Aber ihr ging es scheinbar
     sowieso vor allem darum, mich herabzuwürdigen. Ihre ganze Art war vermutlich nur ein bitterer Vorgeschmack darauf, was mich
     die zwei Jahre im Referendariat erwarten würde: viele zutiefst demütigende und selbstwertbedrohliche Erfahrungen – als unterstes
     Glied in der Schulhierarchie und Fußabtreter der Seminarleiter.
    Dass sie nicht wirklich an meiner Antwort interessiert war, zeigte sich auch daran, dass sie diese nicht abwartete, sondern
     mir stattdessen erläuterte, Urin habe seinen Ursprung in den Nieren, wandere von dort über die Harnleiter in die Blase und
     werde schließlich über die Harnröhre ausgeschieden. Und meine weißen |21| Blutkörperchen, die Leukozyten, seien möglicherweise ein Hinweis auf eine temporäre Entzündung. Kein Grund zur Beunruhigung.
     Ich solle den Test ein paar Wochen später wiederholen. «Das bedeutet noch nicht, dass Sie Ihr Referendariat nicht aufnehmen
     dürfen.» Ich hätte über diese Versicherung erleichtert sein können. Aber das Wort
noch
erweckte meine Aufmerksamkeit. Die Tauglichkeitsprüfung war also
noch
nicht abgeschlossen.
    «Nun zu Ihrem Anamnesebogen!» Vor der Untersuchung hatte ich angenommen, erst an dieser Stelle würde ich mich warm anziehen
     müssen. Schließlich ging es nun um meine Behinderungen. Aber mittlerweile schien es mir, als sollte ich mir weniger wegen
     meiner Klumpfüße und Skoliose den Kopf zerbrechen, sondern vielmehr darüber, dass ich nicht im
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