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Föhn mich nicht zu

Föhn mich nicht zu

Titel: Föhn mich nicht zu
Autoren: Stephan Serin
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Sollte in Ihrem Führungszeugnis doch schon etwas vermerkt sein, Schwamm drüber! Das sind für mich Jugendsünden,
     und ich werde Sie trotzdem im Personalrat durchboxen. Versprochen!
    Und schließlich müssten Sie mir noch das ausgefüllte und unterschriebene Formblatt sowie Ihre Lohnsteuerkarte zukommen lassen.
     Sie können es schicken, aber auch vorbeibringen. Das hätte den Vorteil, dass wir uns mal persönlich kennenlernen würden. Meine
     Sprechzeiten sind Montag bis Sonntag jeweils 7   –   22   Uhr.
    |15| Ich bin mir sicher, dass Ihnen das Referendariat trotz seines schlechten Rufs viel Freude bereiten wird. Lassen Sie sich von
     zwischenzeitlichen Rückschlägen nicht verunsichern. Sie werden die Aufgaben meistern. Sie haben das Zeug zu einem guten Lehrer.
     Das sagt mir Ihr sympathisches Lächeln auf dem Bewerbungsfoto.
     
    Auf bald,
    Ihre Ines
     
    PS: Haben Sie eigentlich schon eine Freundin?

|17| 2
Wo entsteht Urin?
    Die Zusage von der Senatsverwaltung besaß ich zwar, aber ich musste noch durch den Bodycheck, die amtsärztliche Untersuchung
     im Gesundheitsamt Mitte, das sich im dritten Stock eines elfgeschossigen Neunziger-Jahre-Hochhauses unweit vom Alexanderplatz
     befand. Als ich nach meiner Ankunft am Empfang von der Arzthelferin einen Anamnesebogen erhielt, musste ich wieder an die
     Worte des GE W-Referenten denken, den ich extra vorher angerufen hatte: «Die Untersuchung ist reine Formsache. Mach dir keine Sorgen!» Aber konnte
     ich mir bei all meinen Behinderungen da wirklich so sicher sein? Zudem hatten mich seit dem Schreiben von Frau Schönemann
     aus der Beuthstraße meine referendariats- und berufsbezogenen Sorgen dermaßen fest im Griff, dass ich mir gleich wieder ein
     paar neue somatoforme Störungen zugelegt hatte: Stiche in der Brust, ein nächtliches Puckern im rechten Oberschenkel sowie
     ein permanentes Druckgefühl im Bauch. Empfahlen mir diese Beschwerden nicht im Grunde, besser durch die amtsärztliche Untersuchung
     zu fallen, um mich keiner Arbeit zu verschreiben, die mir nur schaden konnte?
    Allerdings waren meine Verunsicherung und meine körperlichen Leiden auch keine konstruktiven Berater, solange mir keine tatsächliche
     Alternative zum Lehrerberuf einfiel. Denn für Journalismus, für den ich mich zu meiner Schulzeit mal begeistert hatte, war
     der Zug wohl abgefahren, da ich mich in den letzten Jahren überhaupt nicht mehr in diese Richtung engagiert hatte. Und etwas
     anderes konnte ich mir nicht vorstellen. Außerdem: Was, wenn meine Panik eigentlich unbegründet und lediglich |18| Ausdruck diffuser Zukunftsängste war? Was, wenn ich doch für den Beruf des Lehrers geeignet war? Dann sollte ich wohl eher
     hoffen, nicht ausgemustert zu werden.
    Im Zweifel darüber, was nun eigentlich für mich richtig war beziehungsweise was ich eigentlich wollte, gab ich der Arzthelferin
     unter Angabe aller Behinderungen und Erkrankungen – außer jenen Beschwerden, die, obwohl ich an ihnen litt, von allen Medizinern
     bisher verleugnet worden waren – einen wahrheitsgemäß ausgefüllten Anamnesebogen ab. Zudem unterzog ich mich der Urinprobe,
     um danach noch einmal auf einem der schwarzen Kunststoffschalensitze im Wartebereich Platz zu nehmen, in welchem sich außer
     mir niemand aufhielt. Kurze Zeit später rief man mich ins Sprechzimmer zu Frau Dr.   Jost. Der Raum war hell und schmal, vielleicht fünf Meter lang, drei Meter breit. Hinter mir, an der Tür, die Zahlenreihen
     für den Sehtest. Gegenüber, an der Stirnseite, ein großes zweiflügeliges Fenster. Die schwarzen Vorhänge waren zur Seite gezogen,
     sodass man auf die Rückseite vom
Kino International
blickte. An der linken Wand die Untersuchungsliege. Über dieser das berühmte Anatomieposter, mir bestens bekannt aus den Physiotherapiepraxen,
     von denen ich wegen meiner chronischen Rückenschmerzen vermutlich jeder einzelnen in den Berliner Innenstadtbezirken bereits
     meine Aufwartung gemacht hatte. Rechter Hand ein Schreibtisch mit Computer. Hinter diesem, auf einem armlehnenfreien schwarzen
     Drehstuhl, die Ärztin, eine Frau in den späten Fünfzigern. Sie trug keinen Kittel, sondern einen marineblauen Anzug. Wollte
     sie mit dieser uniformähnlichen Tracht Autorität vermitteln – oder zum Ausdruck bringen, dass sie eine unkonventionelle Medizinerin
     war? Sie hielt sich bedeckt.
    «So, Herr Serin, dann setzen Sie sich mal!», wies sie mir mit Nachdruck den Holzhocker neben sich zu. «Wir haben
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