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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Autoren: Per Leo
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nach. Tucka-tucka-tucka-tucka-tuck machte es weiter in meinem Kopf. Von dem majestätischen Gefährt, das nun zum Greifen nah unter uns vorbeifuhr, ging dagegen eine unglaubliche Stille aus. Nur wenn man ganz genau hinhörte, waren die Schläge der Schaufelräder im Wasser zu vernehmen. Tschuup, tschuup, tschuup, tschuup, tschuup machten sie. Es schwimmt, dachte ich. Raddampfer schwimmen. Wie Menschen! Sie verdrängen Wasser, das ist das einzige Geräusch, das sie in ihre Umgebung entsenden. Das Fauchen und Knistern des Kohlenfeuers, das Klacken der Kolben, das Konzert der Pleuelstangen: alle Antriebsgeräusche bleiben im Rumpf verborgen. Dass sich der Repräsentant einer titanischen Epoche mir in fast lautloser Erhabenheit zeigte, ergriff mich nun doch. Eine Dampfmaschine ist kein Verbrennungsmotor – wahrlich keine große Erkenntnis, aber sie überfiel mich mit der Wucht einer lange ignorierten Banalität: Bei James Watt brennt ein großes Feuer stetig vor sich hin, während Konrad Diesel in rasendem Takt eine kleine Zündung auf die andere folgen lässt. Aber wieso war es von diesem Wissen ein so weiter Weg zu der Einsicht, dass nur Zündungen knallen?
    Es wäre zu wenig, das Dahingleiten des Dampfers eine Überraschung zu nennen. Es war aber auch nicht sensationell, dazu war die Sinneswahrnehmung als solche zu unscheinbar. Ich kann es nicht anders sagen: Die Macht, mit der das zarte Geräusch der Schaufelräder auf mich wirkte, hatte Züge einer Epiphanie. Ein paar Herzschläge lang neigte ein fremdes Zeitalter sein Haupt zu uns hinab – und entschwand.
    Wir gingen weiter. Noch immer amüsierte sich S. über mein Unverständnis. Ob ich denn einen Tiger ohne Hilfe eines Zoologen erkennen würde, fragte er. Ich tat empört. Doch dann musste S. über sich selbst schmunzeln. Technische Ignoranz war schließlich nichts Neues für ihn. Er teilt eben das Schicksal aller Spezialisten, in einer Welt von Banausen leben zu müssen.
    »Man vergisst ja gerne«, sagte er, »dass die eigenen vier Wände für andere ein fremder Planet sein können. Geht dir in deinem Beruf ja vielleicht auch so.«
    »Welcher Beruf?«, fragte ich unwillkürlich, schob jedoch, um die Sache nicht unnötig kompliziert zu machen, sofort hinterher: »Ja, natürlich. Ich weiß, was du meinst.«
    Zuhause bat er mich ins Wohnzimmer. Er nahm ein gerahmtes Bild von der Wand. Ein Aquarell, das einen großen Passagierdampfer zeigte. Seine Schwester hatte es für ihn gemalt, nicht ungeschickt, wie ich fand.
    »Da siehst du’s – du bist nicht der Einzige«, sagte er.
    »Wieso? Das ist doch ein schönes Bild.«
    »Ich rede nicht von seiner Schönheit.«
    »Sondern?«
    »Von der Blindheit des Laien. Ich weiß nicht, wie viele Passagierdampfer B. in ihrem Leben gesehen hat: Binds und meine Modellbauten, Bildbände voller Fotografien, die Posterin meinem Zimmer. Aber wie malt sie die Schornsteine? Senkrecht.«
    Ich guckte fragend.
    »Sie müssten schräg sein! Nach hinten geneigt! Hast du noch nie die Titanic gesehen?« – er schrie mich fast an.
    »Verrückt. Jetzt, wo du’s sagst, fällt es mir auch auf«, sagte ich. »Aber sonst hätte ich es nicht bemerkt.«
    Ihm schien zu dämmern, dass ich nicht zu retten war. Dass ich auf Seiten der Mädchen stand. Er machte eine wegwerfende Handbewegung und lachte. Dann legte er seinen Arm um meine Schulter und schob mich zur Tür.
    »Lass uns rübergehen«, sagte er. »Ich glaube, das Essen ist fertig.«
    Ich bat ihn vorzugehen. Mir war nämlich etwas eingefallen. Auch mir war schon mal ein Dampferbild geschenkt worden – im letzten Frühjahr war das gewesen, als wir meinen Vater in München besucht hatten –, und ich hatte es sogar fotografiert. Ich holte mein Handy aus der Jackentasche und öffnete den Ordner mit den Fotodateien.
    Zweidi – sie hieß eigentlich anders, aber meine Schwester und ich nannten sie so, weil sie Zweilis zweite Frau war – hatte Helene zwei Filzstifte geschenkt: dicke Mäuse, unter deren abnehmbaren Schnauzen sich die Malspitzen befanden, eine rot, die andere hellblau. Helene war mit ihnen im Wohnzimmer verschwunden. Nach einer Weile kam sie wieder und überreichte mir ein erstaunliches Bild. Wir waren Unförmiges und Expressives von ihr gewohnt, turmhohe Blumen, Köpfe mit Armen, vieldeutige Kritzeleien, die sich auf Nachfrage als Klettergerüste, Feuerwehrautos oder Puppenhäuser erwiesen, was Dreijährige eben so malen. Aber dieses Bild war anders. Es zeigte zwei Schiffe von klar
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