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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Autoren: Per Leo
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Schön wär’s. Er hat mir nur den Hinterkopf rasiert, bis auf die Haut. Weil ich da zwei Wirbel hatte. Aber alles andere ließ er stehen. So durfte ich dann am nächstenTag in die Schule marschieren. Kannst dir ja denken, was da los war.«
    M41 schwieg. Er trank mehrere Schlücke Bier und zündete sich wieder eine Zigarette an. Dann zog er das Buch näher zu sich heran und betrachtete noch einmal die Fotos der beiden Kinder. Mit den Fingerspitzen strich er über das Frontalbild des Jungen, beiläufig, aber unübersehbar, als ob er ein Gepräge erspüren wollte. Er schüttelte kurz den Kopf. Und dann begann er, von seinem Sohn in der Slowakei zu erzählen. Nur Trina hatte von dessen Existenz gewusst. Friedrich war in Unkenntnis seines slawischen Enkels gestorben. Er hätte ihn wohl auch abgelehnt. Oder wäre an der Unschuld dieses kleinen Rassenbastards vielleicht sein Starrsinn zerbrochen? Zärtlich sprach M41 von dem Kind, das schon fast kein Kind mehr war. Nicht gefühlig oder sentimental, gar nicht. Aber zärtlich. Und leise. Neulich habe er ihn besucht und feststellen müssen, dass die Mutter und der Schwager ängstlich mit ihm umgingen. Er durfte nicht Holz hacken. Hat man so was schon gehört?
    »Ich zu ihm: Klar kannst du das. Moss barf bi gaan, hätte deine Großmutter gesagt. Also wir in den Baumarkt, Axt gekauft, und dann den ganzen Nachmittag, doh. Der Stapel reicht jetzt für drei Winter.«
    M41 lachte. Dann verfiel er wieder in brütendes Schweigen. Schließlich, nach einer langen Pause, sagte er: »Nee, doooh. Was für ein Scheiß. Weißt du was?« – er gähnt – »Wir sollten uns alle mehr vermischen. Das hab ich schon oft gedacht.«
    Damit endet die Aufnahme.
    Seinem Sohn, dem jüngsten Enkel des Sturmbannführers Friedrich Leo, bin ich nur ein einziges Mal begegnet. Im Juni1997 muss das gewesen sein, auf einem Familienfest im Garten von W36. Er war noch klein und trug ein Bayerntrikot. Trotzdem gefiel er mir. Ziemlich genau vierzehn Jahre später war er der Einzige, der bemerkte, dass mit M41 irgendetwas nicht stimmte. Als sein Vater auch am dritten Tag hintereinander nicht ans Telefon ging, rief er seinen Onkel in München an. Aber der konnte nicht mehr tun, als den Fall bei der Polizei zu melden.
    Soweit ich weiß, hatte Einsi einen indiskutablen Musikgeschmack. Sogar kommerzielle Volksmusik wäre ihm zuzutrauen. Doch wenn ich an ihn denke, dröhnt mir oft Motörhead in den Ohren – vermutlich die letzte Band, die er selbst gehört hätte. Und ich habe Lemmy vor Augen, in einem Dokumentarfilm, den ich mal irgendwo gesehen habe. Piratenbart. Schwarzer, nietenbesetzter Cowboyhut. Auf der behaarten Brust das EK-Zwo am Lederband. Er sitzt da, sagt was, dann wieder lange nichts, raucht und trinkt und raucht, wirft eine Pille ein, spült sie mit einem großen Schluck Jack and Coke runter und sagt, sein Blutdruck sei extrem hoch: Wenn er sich in den Finger schneide, gebe es eine Fontäne. Und dann lacht er. Rauh, kaputt. Und furchtbar liebenswürdig.
    I’m a lone wolf ligger
    But I ain’t no pretty boy
    I’m a backbone shiver
    and I’m a bundle of joy
    But it don’t make no difference
    ’cos I ain’t gonna be easy, easy
    the only time I’m easy’s when I’m
    Killed by death
    Killed by death
    Killed by death
    Killed by death
    R. I. P. Schutzstaffel boy.

13. KAPITEL
DIE NEIGUNG
    Wer heute bei Grohn an der Weserbiegung steht und nach Vegesack hinübersieht, der könnte meinen, ein blühendes Städtchen vor Augen zu haben. Ein grünes Hochufer beherrscht das Bild. Zwischen den Baumkronen schimmert eine Reihe prächtiger Häuser hindurch, sogar eine Turmspitze ragt aus dem Böschungswald. Der Ausblick von dort muss herrlich sein! Ob man Oldenburg sehen kann? An beiden Rändern der Erhebung, da wo sie sich zum Fluss neigt, ahnt man den Ursprung dieses Reichtums. Es scheint, als hätte er mit Schiffen zu tun: Zur Rechten deuten Masten auf einen Hafen hin; und weit hinten, halblinks, thront der mächtige Riegel eines Werftkrans.
    Wanderer, sollte dich deine Reise je hierhin führen: Erfreue dich des Anblicks – und kehre um! Gingest du weiter, würdest du eine gespenstische Leere betreten. Auch die schönsten Fotos, die sich von Vegesack machen ließen, sähen nur aus wie aus einem Reiseprospekt. Denn alles hier ist Vergangenheit. Die Anlagen der großen Werft sind längst demontiert. Wer nicht weggezogen ist, altert in der Fußgängerzone vor einem riesigen Eisbecher. Das Sortiment der
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