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Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)

Titel: Flut und Boden: Roman einer Familie (German Edition)
Autoren: Per Leo
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aussehen, ohne je eines gesehen zu haben.
    Auf den ersten Blick ist Lange der entbehrlichste der drei Partner. Seine Aufgabe in England wird möglicherweise nur beratend sein. Allerdings ist es nicht unwahrscheinlich, dass ein erworbenes Schiff nach der Überführung umgebaut werden muss; und das wäre dann seine Aufgabe. Aber wer weiß, vielleicht wird man doch ein neues Schiff bauen müssen – und in diesem Fall wäre Lange plötzlich der wichtigste Mann. Er würde dann entweder einem englischen Baumeister kollegial zur Seite stehen und sich dabei alles Wissenswerte für zukünftige Unternehmen abschauen. Oder aber er würde, falls man sich gegen einen Bau in England entschiede, nach eingehender Besichtigung der dortigen Werften den Bau in eigener Regie durchführen. Nun, der aus Langes Sicht besteFall tritt ein. Es findet sich kein geeignetes Schiff. Alles, was in Großbritannien angeboten wird, ist entweder zu schwer oder von so ungünstiger Lastenverteilung, dass es im Wesersand stecken bleiben müsste. Und so führt der letzte Weg der Reise nach Soho bei Birmingham: in die Geschäftsräume der Firma Boulton, Watt & Co., wo Schröder eine vollständige Maschineneinrichtung in Auftrag gibt.
    Zurück in Vegesack schließt Johann Lange sich für Tage im Zeichenraum ein.
    Das Pionierschiff muss schlank und verhältnismäßig lang sein, seine Aufbauten gediegen, aber so klein wie möglich. Das steht schnell fest. Lange entwirft ein Modell, dessen Tiefgang trotz des großen Gewichts des schmiedeeisernen Dampfkessels deutlich unter einem Meter bleibt. Um aber die Manövrierfähigkeit auch bei äußerst flachen Wasserständen in Ufernähe zu erhalten, lassen er und Treviranus sich etwas Besonderes einfallen. Die Schaufelräder sollen nicht direkt an der Kurbelwelle angebracht werden, sondern auf einer eigenständigen Achse, deren Höhe mit Hilfe einer Seilwinde verstellbar ist: nicht senkrecht, sondern in einer Bogenbewegung, bei der die Zahnradverbindung zwischen den beiden Achsen erhalten bleibt. Bedenkt man sowohl die anspruchsvolle Konstruktion als auch die Unerfahrenheit aller Beteiligten, ist es erstaunlich, dass die Weser bereits am 30. Dezember 1816 vom Stapel läuft und im Februar 1817 erstmals zur Probe ausfährt.
    Das größte Hindernis, das sich der für den 6. Mai 1817 geplanten Jungfernfahrt in den Weg stellt, ist allerdings nicht technischer Natur.
    Ganz unerwartet begegnet die Bremer Bevölkerung dem neuen Fahrzeug feindselig. Es macht ihr Angst. Ein geschlossenesFeuer, das mächtig genug ist, die Kraft des Windes zu ersetzen – das weckt katastrophische Phantasien. Als dann auch noch Gerüchte die Runde machen, dass in Amerika mehrere Dampfkessel explodiert seien, droht die Sorge in offenen Protest umzuschlagen. Aber man lebt nicht mehr im Mittelalter. Die Befürchtungen mögen auf Halbwissen beruhen, irrational sind sie nicht. Und eben darum lassen sie sich auch entkräften. Selbst in Diskursen von zuweilen vorneuzeitlich anmutender Hysterie gefangen, können wir nur staunen über die unaufgeregte Sachlichkeit, mit der kurz vor der Inbetriebnahme des Schiffs der für den Bau verantwortliche Ingenieur das Gespräch mit dem lokalen Publikum sucht.
    »Etwas zur Berichtigung der Meinungen über die Zwecke der Dampfböte« – unter diesem Titel bietet Ludwig Treviranus in der Bremer Zeitung vom 1. Mai 1817 ein Musterstück an Populärwissenschaft in praktischer Absicht.
    Der Dampf ist eine elastische Materie, deren ausdehnende Kraft mit dem Grad der Hitze, wovon ihre Ausdehnung abhängt, im Verhältniß steht. Der Druck, welchen ein Gefäß auszuhalten hat, in welchem ein Dampf entwickelt wird oder eingeschlossen ist, hängt also von dem dabei angewandten Grad der Hitze und der hierdurch erzeuten, größeren oder geringeren Expansivkraft des Dampfs ab. Mit diesen etwas ungelenken, aber in der Sache leicht nachvollziehbaren Erläuterungen beginnt der ausführliche Vortrag. Sie reichen aus, um schon im nächsten Absatz den physikalischen Sachverhalt anzusprechen, der aus Sicht des Fachmanns die Genialität der Erfindung auf den Punkt bringt – während er für den Laien wie ein Wunder klingen muss. Ein verständliches Wunder wohlgemerkt: Wird Wasser, bei einem Barometerstand von 28 Zoll, bis 80 Grad nach dem Reaumurschen Thermometer erhitzt,so ist die Expansivkraft des Dampfs oder sein Bestreben, das ihn einschließende Gefäß von innen zu zersprengen, nur grade dem Druck der Atmosphäre von außen
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