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Flußfahrt

Flußfahrt

Titel: Flußfahrt
Autoren: James Dickey
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länger bei uns waren – hatten kleine Büros oder zumindest abgeteilte Arbeitsplätze. Der übrige Teil des Ateliers war ein großer offener Raum voller Zeichenbretter, und ich beobachtete eine Minute lang die grauen und kahlen Köpfe, die sich darüber beugten, die glänzenden schwarzen und glatthaarigen – alle eben vom Lunch zurückgekehrt. Vielleicht habe ich das hier nicht alles selbst geschaffen, sagte ich mir im stillen, aber immerhin habe ich daran mitgewirkt. Noch nie zuvor hatte ich so stark das Empfinden, an einem Ort zu sein, den ich selbst mitgeschaffen hatte. Alton Rogers säße ohne mich nicht hier und träumte von den Zeiten, als er noch den Bomber flog. Ohne mich hinge der Arbeitsraum von George Holley noch immer voller Utrillos. Ohne mich sähe diese Vielfalt von Köpfen, Händen und Brillen ganz anders aus, als sie sich mir in diesem Augenblick darbot. Wahrscheinlich würden diese Leute für jemand anders arbeiten, jedenfalls säßen sie nicht hier. In gewisser Weise sind sie meine Gefangenen; hier verbringen sie – manche zu einem kleineren, andere zum größten Teil – ihr Leben.
    Aber schließlich ging es mir genauso. Im Grunde dachte ich gar nicht, daß sie meine Gefangenen waren, sondern daß ich mein eigener Gefangener war. Ich ging in mein Büro, hängte den Mantel auf und legte meine Hand eine Sekunde lang auf das Zeichenbrett, als wollte ich für eine Selbst-Anzeige posieren: Vizepräsident Gentry trifft eine wichtige Entscheidung. Es wäre eine jener Posen geworden, die den Leuten suggerieren möchten, daß derartige Entscheidungen, von verantwortlichen Männern mittleren Alters getroffen, wesentlich dazu beitragen, die Wirtschaft und die Moral der gesamten westlichen Welt aufrechtzuerhalten. Vielleicht stimmte das sogar, wenigstens soweit ich das beurteilen konnte. Irgendwie mußte es wohl so sein. Zwischen Stapeln von Rohabzügen ein Foto von meiner Frau und meinem kleinen Sohn Dean. Haufen von druckfertigen oder noch nicht geprüften Entwürfen, die von Agenturen stammten, lagen herum, und ich machte mir eine Notiz, weil ich mit Thad darüber sprechen wollte, daß einige der weniger einfallsreichen Werbeagenturen zu glauben schienen, wir wären ihre Graphikabteilung, und das mochten wir beide ganz und gar nicht.
    Ich rief Jack Waskow an, den Fotografen, ob wir anfangen könnten. Er war aber noch beschäftigt, und ich setzte mich hin, um zu sehen, ob es etwas gab, das ich schnell erledigen und vom Tisch schaffen konnte. Aber bevor ich mich an die Arbeit machte, saß ich ungefähr zwanzig Sekunden da und lauschte vergeblich auf meinen Herz schlag. Was immer ich jetzt tun mochte, was ich auch anfassen oder überlegen würde, alles, womit ich mich jetzt beschäftigen konnte – das Gefühl, daß es in jedem Fall absurd und inkonsequent war, setzte sich in ebendiesem Augenblick tief in mir fest. Wie übersteht man so etwas? fragte ich mich. Indem man etwas tut, was sich gerade zur Erledigung anbietet, war die beste Antwort, die ich mir geben konnte; bloß niemandem etwas über das Gefühl sagen, das man eben gehabt hat. Es war das alte, tödliche, hilflose Gefühl des von der Zeit terrorisierten Menschen, genau das. Schon vorher hatte ich hier im Büro ein- oder zweimal solche Anwandlungen gehabt; häufiger überfielen sie mich aber, wenn ich mit meiner Familie zusammen war, denn im Atelier gab es immer etwas zu tun, oder ich konnte mir wenigstens einreden, ich täte etwas, was manchmal schwieriger war, als wirklich zu arbeiten. Aber diesmal hatte ich echte Angst. Es hatte mich erwischt, und ich sagte mir, selbst wenn ich es jetzt fertigbrächte, aufzustehen und die enorme Last der Lethargie abzuschütteln, würde ich zwar zum Trinkwasserbehälter gehen oder mit Jack Waskow oder Thad sprechen können, aber dabei doch das Gefühl haben, ich sei ein anderer, ein bedauernswerter Narr, der so unbeachtet und ohnmächtig dahinvegetiert wie ein Schemen und die wenigen ihm zur Verfügung stehenden Bewegungen absolviert.
    Ich griff nach einer Rohskizze, die ich für die Anzeige von Katts gemacht hatte. Wenn es etwas gab, worüber ich mir einigermaßen sicher sein konnte, dann war es meine Fähigkeit, die einzelnen Elemente eines Layouts in eine harmonische Beziehung zueinander zu bringen. In der Regel konnte ich die traditionellen, billigen, boraxartigen Anzeigen mit ihrer schreienden Schrift und der eindeutig eiskalt kommerziellen Verwendung von Sex nicht ausstehen, mochte andererseits aber
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