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Fluegellos

Fluegellos

Titel: Fluegellos
Autoren: Lucy Cardinal
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im Juni vor acht Jahren«, begann ich.

3
     
    Es war überall gesagt worden. Im Radio. Im Fernsehen. In den Zeitungen. Und dennoch saßen wir jetzt im Auto, auf dem Heimweg aus Berlin, und steuerten geradewegs auf eine pechschwarze Wolkenwand zu. So einen Sturm hatte Köln schon lange nicht mehr gesehen.
    »Mama?«, fragte ich nach vorne und schlang meine Arme um die Brust. Ich fröstelte. Mein Vater hatte die Heizung zwar eingeschaltet, aber es kam mir nicht so vor. Vielleicht wurde ich gerade krank.
    »Was ist?« Meine Mutter warf mir durch den Rückspiegel einen Blick zu.
    »Kannst du mir meine Jacke geben?«
    Ohne nachzufragen reichte sie mir meinen warmen, knielangen Mantel, den ich mir sofort wie eine Decke um den Körper legte. Augenblicklich wurde mir wärmer und ich kuschelte mich noch enger zusammen. Offenbar doch keine Erkältung.
    Dann begann es zu regnen. Immer hektischer trommelten die Tropfen auf das Dach des Autos und gegen die Windschutzscheibe. Schon nach einer Minute waren die Scheibenwischer so schnell, wie sie nur sein konnten, sodass die Scheibe vor Wasser ganz verschwommen war.
    »Das ging schnell«, staunte mein Vater und bremste den Wagen augenblicklich ab, wie alle anderen um uns herum. Wir waren direkt auf der Rheinbrücke und alles staute sich.
    »Zum Glück sind wir gleich zu Hause«, murmelte meine Mutter und befreite mit der Faust das beschlagene Fenster. Es brachte nicht viel, der Regen ließ die Straße benebelt wirken. Einzig die roten Lichter der Autos vor uns waren noch zu erkennen.
    Mein Vater seufzte. »Zum Glück.« Er beugte sich nach vorne, sodass er fast mit dem ganzen Körper über dem Lenkrad hing, und starrte in den Regen hinaus. Wir fuhren auf der rechten Spur, und dennoch konnte ich kein bisschen den Rhein erkennen, der eigentlich unter uns fließen sollte. Die Tropfen waren zu dicht.
    Als ich meinen Blick wieder ins Innere des Autos richtete, hörte ich es. Und meine Eltern auch. Ruckartig saß mein Vater wieder aufrecht und wirbelte herum.
    Quietschende Reifen. Lautes Hupen.
    Ein Auto hatte den Stau nicht rechtzeitig gesehen und raste von hinten auf uns zu. Jeder von uns wusste, dass es nicht mehr rechtzeitig zum Stehen kommen würde.
    Und wir sollten alle recht behalten.
    Keine zwei Sekunden nach diesem abartigen Geräusch ging ein kräftiger Ruck durch den Wagen, der mich nach vorne warf und mit dem Kopf gegen die Rückenlehne meiner Mutter knallen ließ. Der Sicherheitsgurt brannte sich in meinen Oberkörper und ich schrie laut auf. Mein Vater versuchte, dem Wagen vor uns, auf den der Aufprall uns zuschleuderte, auszuweichen und riss das Lenkrad nach rechts.
    Rechts war der Rhein.
    Wir krachten gegen die Leitplanke, die an dieser Stelle schwach war und nachgab. Die Fensterscheibe neben mir splitterte mit einem lauten Platzen und ich spürte kalte Regentropfen auf meiner Wange, wenn auch nur unterbewusst. Ich war wie gelähmt.
    Dann kam das Glas, das unseren Wagen kaum aufzuhalten schien. Und dann kam nichts.
    Wir befanden uns im freien Fall und der Rhein kam immer näher.
    Erst, als wir auf der Wasseroberfläche auftrafen und mir ein dicker Schwall Wasser ins Gesicht schoss, erwachte ich aus meiner Trance. Augenblicklich wurde mir klar, was geschehen war. Der Unfall. Die Leitplanke, die uns nicht gehalten hatte. Das eiskalte Wasser, das uns verschlingen würde.
    Wie aus einem Reflex heraus löste ich den Sicherheitsgurt und riss mit bloßen Händen die restlichen Scheibensplitter aus dem Fensterrahmen. Dabei rann mir tiefrotes Blut über die Hände, doch den Schmerz spürte ich nicht. Darum ging es nicht. Es ging nicht um ein paar Narben, die mir vielleicht bleiben würden. Es ging nicht um den Blutverlust.
    Es ging um mein Leben.
    Ich hatte gerade den gröbsten Teil der Scheibe entfernt, als mein Blick nach vorne fiel, zu meinen Eltern.
    Die sich nicht rührten.
    Im Rückspiegel konnte ich einen großen, roten Fleck auf der Stirn meiner Mutter erkennen. Ihre Augen waren geschlossen, der Kopf war zur Seite geneigt. Und mein Vater schien durch das Lenkrad eingeklemmt zu sein.
    »Papa!«, rief ich, ohne Erfolg. Er blinzelte nicht einmal und das Auto füllte sich mehr und mehr mit kaltem Süßwasser. Auch durch mein Fenster strömte es nun herein, wir sanken immer schneller.
    »Mama!«, rief ich erneut. Aber auch von ihr kam keine Antwort.
    Und dann überkam mich die Panik, ich packte den Fensterrahmen und zog mich nach draußen in die Freiheit. Mein Unterkörper
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