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Flucht vor den Desperados

Flucht vor den Desperados

Titel: Flucht vor den Desperados
Autoren: Caroline Lawrence
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Stachel hinzu, der dich sticht, damit du bescheiden bleibst.
    Mein Geschenk ist, dass ich in mancher Hinsicht wirklich klug bin. Ich kann lesen & schreiben & im Kopf jede Summe ausrechnen. Ich spreche Amerikanisch & die Sprache der Lakota-Indianer und auch ein wenig Chinesisch & Spanisch. Ich kann mit einem Revolver schießen & ich kann ein Pony mit und ohne Sattel reiten. Ich kann die Spuren jedes Wildes verfolgen & es erlegen & häuten & es dann über einem Feuer braten, das ich selbst angezündet habe. Ich weiß auch, wie man mit einer Handvoll Kräuter Kopfschmerzen heilt.
    Ich kann noch drei Hütten weiter ein Baby quengeln hören und eine Maus in der Speisekammer.
    Ich kann am Geruch seines Haufens erkennen, was ein Pferd gegessen hat.
    Ich kann jedes einzelne Blatt auf einer Pappel sehen.
    Aber hier kommt mein Problem: Ich kann nicht erkennen, ob das Lächeln eines Menschen echt oder gespielt ist. Ich kann nur drei Gefühle ausmachen: Glück, Angst & Wut. Und manchmal bringe ich sogar die durcheinander.
    Mitunter erkenne ich auch jemanden nicht wieder, dem ich schon einmal begegnet bin. Wenn die Leute sich einen Bart wachsen lassen oder ihre Frisur anders ist, verwirrt mich das.
    Das ist mein Stachel: Menschen täuschen mich.
    Und nun kostet mein Stachel mich das Leben.

KONTOBUCHBLATT 2

    Alles begann vorgestern, am 26. September. Ich kam von der Schule nach Hause, betrat unsere Hütte, die nur aus einem Raum besteht, roch verbrannte Milch & sah, dass alles wild verstreut herumlag. Ich schloss die Tür hinter mir & machte einen Schritt vor. Erst in diesem Moment sah ich meine Pflegeeltern in einer Blutlache auf dem Boden liegen.
    Sie waren beide skalpiert worden. Es sah aus, als wären sie beide tot.
    Zuerst rannte ich zu Ma. Sie hatte noch die große eiserne Bratpfanne in der Hand, und es waren Haare & Blut daran, also nahm ich an, dass sie versucht hatte, sich zu wehren.
    Als ich bei ihr stand und zu ihr hinunterschaute, flatterten ihre Lider. Sie öffnete ihre Augen und sagte: »Pinky?« Pinky war ihr Spitzname für mich. Es ist die Kurzform von Pinkerton.
    Ich kniete mich neben sie. »Ich bin hier, Ma.«
    »Lebt Emmet noch?«
    Ich schaute zu Pa hinüber. Er atmete nicht. Seine Augen waren geschlossen, und ein friedliches Lächeln lag auf seinem Gesicht. Außerdem steckte ein Beil in seiner Brust. Ich musste schlucken.
    »Nein, Ma«, antwortete ich.
    »Er war ein guter Mann«, sagte sie. »Ich werde ihn bald schon wiedersehen, oben in den himmlischen Gefilden.«
    »Sprich nicht so, Ma. Ich werde Doc Finley aus Dayton holen.«
    »Nein.« Ihre Stimme war schwach. »Dazu ist keine Zeit. Ich sterbe. Dein Medizinbeutel. Der, den deine andere Ma dir gegeben hat.«
    »Ich glaube nicht, dass mein Medizinbeutel dir jetzt helfen kann, Ma.«
    »Nein, ich meine … hinter ihm waren sie her.« Sie stieß eine Art Seufzer aus, und ich dachte schon, es sei vorbei mit ihr. Aber dann öffneten sich ihre Augen & sie griff fest nach meiner Hand. »Er enthält dein Schicksal. Pinky, erinnerst du dich an mein besonderes Versteck?«
    »Das lose Fußbodenbrett hinter dem Herd?«
    Sie nickte. »Du bist klug, Pinky. Du wirst herausfinden, was zu tun ist. Nimm den Medizinbeutel und verschwinde schnell von hier. Bevor sie zurückkommen.«
    Zuerst begriff ich nicht, was sie meinte. Dann aber doch. »Die Indianer, die das getan haben, könnten zurückkommen?«, fragte ich.
    »Es waren keine Indianer.« Ihre Stimme war jetzt sehr schwach & ihre Haut schrecklich weiß. Sie sagte: »Einer von ihnen hatte blaue Augen. Und er roch nach Bay-Rum-Haarwasser. Indianer benutzen kein Haarwasser.«
    Ich schnupperte. Ma Evangeline hatte recht. Über dem Geruch von Blut, verbrannter Milch & frisch gebackenem Kuchen konnte ich den süßen Duft von Nelken wahrnehmen: Bay-Rum-Haarwasser. Außerdem erwischte ich noch einen Hauch von schweißigem Achselgeruch.
    Die Männer, die das getan hatten, waren vor wenigen Minuten aufgebrochen & konnten jeden Moment zurückkehren. Mein Instinkt riet mir, davonzulaufen, aber ich wollte meine sterbende Ma nicht zurücklassen.
    »Geh, Pinky«, sagte sie. »Nimm deinen Medizinbeutel und verschwinde von hier, bevor sie zurückkommen.«
    Ich stand auf & schaute zu ihr hinunter. Schon in wenigen Augenblicken würde sie nicht mehr leben. Ich ballte meine Fäuste.
    »Ich werde diese Männer finden«, sagte ich. »Und ich werde dich rächen, Ma.«
    »Nein«, entgegnete sie. Und dann sagte sie: »Pinky?«
    Ich konnte sie
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