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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya
Autoren: Maria Blumencron
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Stock, und seine Nähe bringt mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurück. Außerdem finde ich es absurd, daß jeder Single in Köln in seiner eigenen Single-Wohnung schlafen soll. Außerdem hätte ich bei mir ohnehin keinen Parkplatz mehr gefunden. Außerdem ist meine Heizung kaputt, und außerdem habe ich Hunger.
    Jürgen weiß, wie man über Internet eine vegetarische Pizza ohne Knoblauch, Zwiebeln, Käse, Ei, dafür aber mit doppelter Portion Tomaten und Brokkoli bestellt, und sein Thermostat steht von Anfang September bis Ende Mai auf fünfundzwanzig Grad plus.
    Jeden Morgen fahre ich mit Jürgens rotem Golf und schwarzgefärbten Haaren nach Wiesbaden, wo ich gerade dabei bin, mich als türkische Physiotherapeutin in einen hessischen Biobauern zu verlieben. Ich bin eine mittelmäßig talentierte Schauspielerin der SAT- I -Vorabendserie ›Kurklinik Rosenau‹. Meistens bewege ich mich joggend oder schwimmend durchs Bild, manchmal darf ich auch was sagen oder meinen attraktiven Filmpartner küssen. In der nächsten Staffel werde ich sogar ein Kind bekommen und freue mich jetzt schon auf die Drehtage mit umgeschnallten Kissen unterm T-Shirt.
    Heute scheint Jürgens Pizzabestellung abgestürzt zu sein. Jetzt bleibt nur noch die Schokocreme auf seinem Küchenregal, denn Jürgens Kühlschrank macht mir angst: Fleischwurst, Majo und Kölsch. Wie schade, daß Jürgen schon schläft. Er hätte sich für mich bestimmt noch in die feuchtkalte Nacht hinausgewagt, um sich auf die Suche nach einem offenen Büdchen zu machen. Und zweifelsohne hätte er reiche Beute nach Hause gebracht: Krokantschokolade, Pringles und eine Familienpackung Milky Ways.
    Also bleibt mir nichts anderes übrig, als mich mit Heißhunger durch die Fernsehprogramme zu arbeiten: die öffentlich-rechtlichen, für die ich gerne arbeiten würde, die privaten, von denen ich lebe, vorbei an VIVA, VIVA 2 und MTV, schnell weiter durch die seltsamen Zwanziger-Programme, bis ich schließlich wieder beim Ersten angelangt bin. Hier läuft ein österreichischer Krimi aus den frühen Achtzigern. ›Kottan ermittelt‹ – absolut genial! Als Kind habe ich mein Ohr an der Wand zu unseren schwerhörigen Nachbarn plattgedrückt, um den Kottan wenigstens als ›Hörspiel‹ zu verfolgen. Meistens hatte ich ja Fernsehverbot, wollte aber auf dem Schulhof unbedingt mitreden können. Jetzt muß ich mir den ›Kottan‹ selbst verbieten, sonst verfalle ich über Nacht noch in meinen Wiener Slang, den ich mir hart abtrainieren mußte, um bei SAT I als ›Quoten-Türkin‹ durchzugehen.
    Auf dem Zweiten erhasche ich gerade noch das Ende eines Beitrags über die gesundheitlichen Risiken einer Brustvergrößerung. Das nächste Thema der Sendung: tibetische Kinder, die ohne ihre Eltern über den Himalaya nach Indien flüchten. Die Fotos eines erfrorenen Mädchens – nicht älter als zehn – und eines noch kleineren Jungens werden gezeigt. Ein Bergsteiger war zufällig auf ihre Leichen gestoßen, als er illegal das tibetisch-nepalesische Grenzland durchstreifte.
    Der Anblick dieser Kinder trifft mich genau da, wo ich am verwundbarsten bin. Verloren, verlassen, von ihren Eltern über das höchste Gebirge der Welt ins Exil geschickt – mit dünnen Stoffschuhen an den Füßen, die kleinen, zerbrechlichen Finger nicht einmal durch warme Handschuhe geschützt. Ich ahne, wie kalt es da oben ist in den Nächten und wie knapp die Luft zum Atmen. Ich weiß, wie häßlich Erfrierungen aussehen. Bergsteigen ist so ziemlich das einzige, was ich recht gut kann.
    Ich hole mein Bettzeug aus der Weidentruhe, drehe Licht und Fernseher ab, verkrieche mich in Jürgens grauer Couch. Doch meine Gedanken lassen sich nicht abstellen. Waren die Kinder Geschwister? Haben sie sich ganz alleine auf den Weg gemacht? Oder waren sie Teil einer Gruppe und sind in einem Schneesturm verlorengegangen? Hat ein skrupelloser Schlepper sie im Stich gelassen, weil ihr langsames Tempo den Rest der Gruppe gefährdete? Was ist mit den Eltern? Wie konnten sie so verantwortungslos sein, die Kleinen im Winter über die Berge zu schicken? Warum sind sie nicht mitgegangen, warum haben sie ihre Kinder nicht ins Exil begleitet? Wissen sie überhaupt, daß ihre Kleinen dort oben im Himalaya erfroren sind? Das muß das Schlimmste für ein Kind sein: nicht in den tröstenden Armen der Mutter, sondern ganz alleine da oben in der Eiswüste zu sterben – in dem Bewußtsein, daß es die Eltern nie erfahren werden. Ich
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