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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya
Autoren: Maria Blumencron
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weine in mein Kissen, doch weil Jürgen mich nicht hört, schlafe ich schließlich ein. Im Traum werden die Bilder lebendig. Ich sehe die beiden Kinder in einer gigantischen eisgrauen Kulisse umherirren. Nicht ein kleiner Pfad, der ihnen Halt gäbe! Nicht eine Yakflade, die die vertraute Nähe von Menschen angekündigt hätte! Und als die Berge nachts zu schwarzen Ungeheuern werden, läßt sich der kleine Bruder auf den gefrorenen Schnee fallen und weint nach seiner Mutter. Die Schwester hält seine kalten Hände. Verspricht, daß sie nach Hause zurückkehren werden, wenn wieder Tag ist. Doch als Nomadenmädchen weiß sie, daß die Eiseskälte sie für immer an das Schneebett fesseln wird.
    Als ich aufwache, höre ich Jürgen in der Küche Orangensaft pressen. Der Kaffee ist auch bereits gekocht, nur der Bäcker hatte noch nicht offen.
    »Ich weiß, was ich von Beruf machen möchte.«
    »Du bist Schauspielerin.«
    »Ich möchte aber Bergführerin sein.«
    »Da wirst du hier im Rheinland sicher schnell einen Job finden.«
    »Nicht hier. Im Himalaya. Ich werde tibetische Kinder auf ihrer Flucht begleiten.«
    Bevor Jürgen mich mit seinem Sarkasmus mundtot machen kann, verschwinde ich im Bad und verriegle die Tür. Ich dusche kalt, um mich schon mal auf die Kälte in sechstausend Metern Höhe vorzubereiten. Plötzlich ergibt alles einen Sinn: daß ich am Samstagabend das Fitneß-Studio immer als letzte verlasse, um am Sonntagmorgen beim Lauftraining die erste zu sein. Daß meine Ururgroßtante Paula die erste Skispringerin Österreichs war (mit langen wehenden Röcken sprang sie achtundzwanzig Meter weit); und daß Heinrich Harrer meiner Mutter zur Hochzeit drei silberne Opferschalen aus Tibet schenkte.
    Beim gemeinsamen Frühstück ohne Brötchen, Müsli und Ei fragt mich Jürgen meinen mageren Text für den heutigen Drehtag ab.

Tamding, der Amdo-Boy
    » Amdo ist die schönste Provinz in Tibet. In Amdo ist Seine Heiligkeit, der 14. Dalai Lama, geboren. Ich bin auch ein Amdo- Boy, und ich erinnere mich, daß die Leute über unseren Ort sagten, daß er der beste von Tibet sei!
    Ich lebte in einem kleinen Dorf, wo fast alle Familien Bauern sind. Meine Eltern hatten nur ein kleines Haus, und wir teilten uns zu fünft ein großes Bett: Amala, Paala, meine Brüder und ich.
    Meine Großeltern lebten auch bei uns, und ich liebte sie sehr. Sie sind es, die ich heute am meisten vermisse.
    Meine Mutter zeigte mir alles, was man als Bauer wissen muß. Deshalb weiß ich, wie hart das Leben der Bauern in Tibet ist. Wenn ich daran denke, tut es mir immer so leid für sie.
    Meine Familie hatte große Probleme, denn wir hatten nie genug zu essen. Wann immer die chinesische Regierung Arbeiter zum Straßenbau brauchte, holten sie die Männer unseres Dorfes. Dann fehlte Vater auf dem Feld und bei den Tieren. Außerdem war es schlimm mit den Steuern. Wenn ein Kind zuviel in der Familie war, mußten die Eltern dafür Strafe zahlen … «
TAMDING
    »Seht ihr die drei Sterne?« Paala deutete in den Himmel, wo direkt über ihnen der Gürtel des Orion auf die Berge herabblickte. Die drei Himmelskörper, die wie auf einer imaginären Geraden nebeneinander um die Wette funkelten, machten es Tamding leicht, das Sternzeichen als erster zu erkennen. Aber auch seine Brüder Mipam und Dorjee hatten es schnell gefunden. Dann sprach Vater davon, daß er sie alle drei gleichermaßen lieben würde. Und daß er keinen von ihnen missen wolle – so wie Orion auf keinen seiner drei Sterne verzichten konnte. Es sollte nie einen Unterschied zwischen den Brüdern geben.
    Tamding wußte, daß sein Paala aus dem Herzen sprach. Sein Vater war der beste Mensch in der Familie. Und doch – es gab einen Unterschied zwischen ihm und seinen Brüdern. Tamding war der Jüngste. Er war derjenige, für den die Eltern hohe Steuern an die Chinesen zahlen mußten. Denn in seiner Provinz ist es nicht erlaubt, mehr als zwei Kinder zu haben. Für jedes weitere verlangt die Regierung so hohe Steuern, daß es die meisten Familien in den wirtschaftlichen Ruin treibt.
    »Wegen des Dritten« mußte Amala schon seit Jahren dieselbe abgewetzte Chuba tragen. »Wegen des Dritten« hatte Paala eine tiefe Sorgenfalte zwischen den Brauen. »Wegen des Dritten« konnten sie für Großvater keine Medikamente kaufen. »Wegen des Dritten« wurden der Erste und der Zweite nicht satt. Natürlich hatte das nie jemand in der Familie so ausgesprochen. Es war Tamding, der es dachte und
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