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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya
Autoren: Maria Blumencron
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rechts außen. Hier läßt es sich am besten träumen. Dem Kauderwelsch des Lehrers zu folgen, hat sie längst aufgegeben. Zwar gibt es auch unter den dummen Kindern welche, die darum kämpfen, irgendwann die Seite wechseln zu dürfen, aber wer im Unterricht schon so weit abgetrieben ist wie Little Pema, hat keine Hoffnung mehr, das rettende Ufer zu erreichen.
    Wäre sie doch wenigstens die Schönste in der Klasse! Aber in keinem ihrer Märchen gibt es eine Prinzessin, die nachts ins Bett macht und Löcher in den Strümpfen hat. Prinzessinnen müssen sich auch nicht dafür schämen, daß sie geprügelt werden. Es sind nicht die Flecken und Striemen, die Little Pema daran hindern, ein Mädchen wie alle anderen zu sein. Es ist dieses Gefühl der tiefsten Blöße, das sich wie eine Klette an jede Tracht Prügel hängt. Das letzte Mal hat der Vater sie mit einem feuchten Lappen geschlagen. Danach hatte sie das Gefühl, nicht mehr wert zu sein als der feuchte Lappen, den der Vater in seiner Rage aus dem Putzeimer fischte. Die schönen Mädchen werden bestimmt nicht geschlagen. Ihre Nasen sind zierlich, ihr Lachen klingt hell, und ihre Augen leuchten beim Spielen auf dem Schulhof.
    »Ein Khampa-Mädchen muß nicht schön sein«, hat Großvater einmal gesagt, »Hauptsache, es hat Mut.« Aber wer sogar Angst davor hat, nachts aus dem Bett zu klettern, um sich eine frische Hose aus der Truhe zu holen, wird nie ein Held.
    Vor ihrem Großvater haben alle Respekt. Denn Kelsang Norbu gilt als der letzte richtige Khampa in der Region. Er hat den erbitterten Widerstandskampf gegen die Chinesen überlebt, nur mit seinem Messer und einer maroden Flinte bewaffnet. Er hat auch die Jahre des großen Hungers überdauert, als die Chinesen die Bauern gezwungen haben, Weizen statt ihrer robusten Gerste anzubauen. Doch die Sommer in Tibet sind kurz, und so hatte der Weizen zuwenig Zeit, um sich goldgelb zu färben. An den Folgen der Mißernten starben Hunderttausende von Tibetern. Nicht Kelsang Norbu.
    »Er wird sich erst zum Sterben auf den Acker legen, wenn diese Hundefleischfresser verschwunden sind und Tibet endlich wieder frei ist«, sagen die Alten im Dorf.
    Man hat ihnen die Gebetsmühlen aus der Hand, nicht aber die frommen Wünsche aus den Herzen gerissen. Man drehte ihre Uhren um drei Stunden zurück, konnte aber nicht verhindern, daß die Sonne trotzdem wieder am Horizont auftauchte. In den Arbeitslagern verging man sich an ihren Frauen, die wehrlos waren – wie ihre Erde.
    Doch die Natur schlägt irgendwann zurück, wenn man sie vergewaltigt. Seit Kolonnen von Lastwägen mit dicken Baumstämmen in Richtung China rollen und nichts zurücklassen als verkarstetes Land, verbrennt die Hitze des Sommers das Gras auf den Weiden. Dann kommen die Leute aus dem Dorf zu Großvater, bringen Biskuits und schwarzen Tee: »Unsere Yaks werden sterben, wenn du nicht hinausgehst und mit den Göttern sprichst«, sagen sie und beugen ihre Nasen bis auf den Boden hinunter. Auch die Jungen, die schon lange nicht mehr in den Tempel gehen. Statt dessen in den Karaokebars der Stadt betrunken chinesische Schlager grölen. Doch den Chinesen ist es egal, wenn die Weiden braun sind und den hungrigen Yaks das Fell schon bis zum Boden hängt. Viehsteuer ist Viehsteuer, und Grassteuer ist Grassteuer. Dann schnürt Großvater sein Tsampabündel und schlüpft in seinen alten Mantel aus gewalkter Wolle, um auf den Hügel zu steigen, den sie im Dorf den ›Geierthron‹ nennen.
    Dort sitzt Großvater dann an einen spitzen Fels gelehnt, eingehüllt in seine Erinnerungen. Ißt nichts. Trinkt nichts. Oft tagelang. Auch der eisige Wind und die Einsamkeit der Nacht rütteln nicht an seinem eisernen Willen, dunkle Regenwolken hinter dem Horizont hervorzulocken. Die Augen – zwei tränende Schlitze – an den tiefen Himmel geheftet, schickt er seine Gebete zu den Göttern. Streut er goldgelbes Tsampa als Opfergabe in den Wind, freuen sich Rebhuhn und Murmeltier.
    Einmal haben sich die Jungs aus dem Dorf mit ihren Steinschleudern auf den Geierthron geschlichen. Little Pema stolperte ihnen hinterher, um Großvater zu warnen, war aber dann doch zu neugierig. Sie zielten auf die Türkise in Großvaters Zöpfen. Trafen aber nicht. Sie schossen an seiner hageren Schulter vorbei ins Leere, und auch seine breite Nase verfehlten sie mit zittriger Hand. Vielleicht war es die seltsame Stimmung, die den meditierenden Alten umgab. Wahrscheinlich aber der gruselige Ruf des Ortes, der
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