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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya
Autoren: Maria Blumencron
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wird, je weiter sich der Vater aus ihrem Leben entfernt. Wenigstens für ein paar Tage.
    Dann holt der Großvater seine Felle aus dem Stall, und die Mutter läuft ins Haus, um alle Fenster zu öffnen: Frischer Wind soll durch die niedrigen Zimmer wehen und alle bösen Worte, die in den letzten Wochen fielen, vertreiben. Little Pema fegt den Boden blank, klopft im Hof den Teppich aus, der kleine Bruder füllt die silbernen Opferschalen mit frischem Wasser. Langsam kehrt wieder Friede im Haus ein.
    Doch nachts steht er plötzlich wieder an ihrem Bett. Ein großer schwarzer Schatten in der Dunkelheit. Little Pema ruft nach ihrer Ama, die im gleichen Zimmer schläft, aber die Kehle, zugeschnürt, hält jeden Ton darin gefangen. Gleich zerrt die eiserne Hand sie unter der warmen Decke hervor. Manchmal würgt er sie am Hals. Manchmal ist der Dolch ganz stumpf, den er ihr mitten ins Herz stößt. Manchmal, und das ist der schlimmste aller Träume, fühlt sie sich in die Höhe gerissen und in eine dunkle Schlucht geschmissen. Bevor sie unten, am tiefsten Grund ihrer Ängste aufschlägt, wacht Little Pema auf. Mit gelähmten Gliedern und einem sausenden Schmerz im Bauch.
    Dann ist das gute Schaffell naß, und Little Pema schämt sich.
    »Ama«, flüstert sie in die Dunkelheit, »es ist schon wieder passiert.«
    Wird Ama wach, dann hört sie ihre Decken rascheln:
    »Ts’uu-sch’oh, Pema-la! – Komm zu mir, liebes Kind.«
    Im Sommer duftet Amas Haar nach Kräutern und Gerste. Im Winter riecht es nach Herdfeuer und Schnee. Die Frauen im Dorf tragen ihre Zöpfe unter bunten, karierten Tüchern versteckt. Doch Little Pemas Ama ist anders. Zwar melkt sie die Yakkühe am frühen Morgen. Sie holt auch das Wasser vom nahen Fluß und röstet in einer riesigen Pfanne die goldgelbe Gerste zu Tsampa. Mittags kocht sie Reis mit Gemüse und Brei für den zahnlosen Alten. Die Yakfladen, die in der Sonne zu Brennmaterial getrocknet sind, wirft sie gekonnt über die Schulter in ihren Weidenkorb. Sie flickt den Blasebalg, mit dem der Alte das Herdfeuer am Lodern hält, sie flickt den Reifen des klapprigen Fahrrads, wenn sie in die Stadt fahren muß, um ihre Schaffelle zu verkaufen. Sie flickt das Loch im Dach und auch den Riß im kupfernen Teekessel. Nur die Löcher in Little Pemas Strümpfen bleiben ungeflickt.
    »Kang-schug nyingpa«, rufen deshalb die tibetischen Kinder in Little Pemas Klasse: »Alte Socke!«
    Und abends, wenn die anderen Mütter Gute-Nacht-Geschichten erzählen – von Felsdämonen und türkisspeienden Drachen – reitet Little Pema mit ihrer Ama über die Weiden, um Yaks und Schafe in den Pferch zurückzutreiben. Diese milden Stunden im Sattel, an Amas Rücken gelehnt und die Hände um ihre Hüften geschlungen, sind die schönsten des Tages.
    »Tscho, Tscho, Ho!« Ama kann pfeifen wie ein Mann, und auch die Tiere gehorchen ihr.
    Heute hat Ama ihr Pferd viel weiter laufen lassen als sonst. Sie ritten bis zu einem Hügel, der noch höher war als der höchste Hügel ihres Dorfes. Als Amas Pferd die Kuppe erreicht hatte, breitete sich das Land vor ihnen aus wie ein prächtig bestickter Wandteppich. Es war die kurze Stunde vor dem Sonnenuntergang, der die Wiesen so grün und die Berge so nah erscheinen läßt.
    »Hinter diesen Bergen  …«, flüsterte Ama und deutete auf das endlose Spiel von Hügeln, die sich verliebt ineinandertürmten, »hinter diesen Bergen und noch viel, viel weiter weg liegt Indien.«
    »Indien«, Little Pema ließ das Wort über ihre Zunge schnalzen. Eine seltsame Stille hatte das Land erfaßt.
    »In Indien ist es sehr warm. Dort gibt es Elefanten, Affen und riesige Schlangen! Indien ist ein freies Land. Es ist nur von Bergen und Meer umgeben.«
    »Wie sieht es aus, das Meer?«
    »Das Meer ist ein See ohne Ufer. Ein riesengroßes Land aus Wasser und Wellen.«
    Little Pema schwieg. Angestrengt versuchte sie sich einen See ohne Ufer vorzustellen.
    »Ich bin keine gute Mutter für dich, denn ich muß Mutter und Vater sein. In Indien lebt die beste Mutter der Welt! Die Schwester des Dalai Lama. Sie ist die Mutter aller Kinder im Exil.«
    »Du bist die beste Mutter für mich.«
    »In Indien wärst du sicher vor deinem Vater.«
    Little Pema machte sich steif in Amas Arm.
    »Es liegt nicht an dir, daß er dich schlägt«, fuhr die Mutter fort, »es liegt an der Leere in seinem Leben. In seinem Herzen ist er ein guter Mann. Doch der Alkohol hat seine Seele ruiniert. Er schlägt uns, weil er verzweifelt
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