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Flucht über den Himalaya

Flucht über den Himalaya

Titel: Flucht über den Himalaya
Autoren: Maria Blumencron
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Ehrfurcht vor ihm nieder. Dreimal. Dann hocken sie sich mit übereinandergeschlagenen Beinen auf ihre Schultaschen und Tamding richtet still seine Bitte an den Tausendarmigen:
    »Großer Buddha. Jede Nacht höre ich Ama weinen, denn mein Schlaf ist der eines Wachhundes. Wenn die Götter nicht bald Biskuits und Kekse vom Himmel schicken, werde ich gehen. Irgendwohin, wo ich nicht länger der Dritte bin.«
    Chenresig ist riesengroß. Drei Meter oder mehr. Wenn er zuhört, sind seine Augen halb geöffnet. Und halb geschlossen sind sie, wenn er in Versenkung ruht. Zu seinen Füßen liegen die Opfergaben der Dorfbewohner: Tsampa, Reis, Brot, Kekse und Biskuits. Wer arm ist, bringt eine Schale mit Wasser. Vor wenigen Tagen feierte ein wohlhabender Mann aus dem Dorf seine Hochzeit. Die Süßigkeiten zu Füßen des Buddhas müßten also noch frisch sein und wurmfrei. Kekse mit bröckeliger Schokoladencreme, einfache Biskuits und solche mit Marmelade … Es würde bestimmt nicht auffallen, wenn ein oder zwei Packungen fehlten.
    Verstohlen schielt Tamding nach dem dicken Mönch, der Tempeldienst hat. Er sortiert die Butterlampen aus, die schon heruntergebrannt sind. Mit einer langen Zange, damit er sich nicht die Finger verbrennt, läßt er sie laut klappernd in einen schmierigen Eimer fallen. Tamding zuckt zusammen. Nein. Es ist schlimm genug, auch nur daran zu denken! Ratten, Mäuse und anderes Ungeziefer machen sich nachts heimlich über die Opfergaben her, doch nicht er!
    »Warum ist der Tempelmönch so dick?« fragt sich Jamjang auf dem Nachhauseweg.
    »Weil er nicht auf dem Feld arbeiten und vermißten Schafen hinterherrennen muß«, meint Tamding.
    »Aber vom Beten allein wird man doch auch nicht satt!«
    »Manchmal geschehen Wunder.«
    »Ich glaube, daß er von den Opfergaben nascht.«
    »Das glaub’ ich nie und nimmer!« ereifert sich Tamding. »Wer den Göttern die Gaben stiehlt, wird als Ratte wiedergeboren!«
    Am letzten Schultag vor Losar gibt der Lehrer die Plazierungen der Schüler bekannt. Es ist eine kleine Dorfschule, die Tamding besucht. Es gibt nur sechs Klassen und sechs Lehrer. Sie sind alle Tibeter, müssen sich aber strikt an den Unterrichtsstoff halten, den die Chinesen vorschreiben. An der Wand über der Tafel hängt ein Bild von Mao Zedong.
    Der Lehrer ist nett, und er hat eine Neujahrsüberraschung mitgebracht: Für jedes Kind gibt es heute ein klebriges Bonbon. Für die drei besten Schüler sogar ein Geschenk.
    Tamding spürt dieses seltsame Prickeln unter den Haaren. Es meldet sich immer, wenn er aufgeregt ist oder Gefahr droht.
    Platz drei geht an die fleißige Dolma, die sich mit einer kleinen Verbeugung für die Tafel Schokolade bedankt. Nun holt der Lehrer eine riesige Packung Marmeladenbiskuits aus der Plastiktüte. Sie ist für Tamding bestimmt – Platz zwei, wie jedes Jahr. Jamjang bekommt als Klassenbester eine große Dose mit chinesischen Krokantpralinen.
    Auf dem Nachhauseweg schimmert für sie die Straße golden vor Glück. Und die Schritte sind leicht, als würde sie der Tausendarmige tragen. Als sie an die Brücke kommen, wo ihr Weg sich trennt, drückt Jamjang seinem Freund die Dose mit den Pralinen in die Hand: »Chenresig und wir beide wissen, daß du in Wahrheit der Klassenbeste bist.«
    Dann läuft er schnell über die wankende Brücke, dreht sich am anderen Ufer noch einmal um: »Ein schönes Losarfest! Und paß auf, daß deine Brüder dir nicht alles wegfressen!«
    Als Tamding nach der dünnen Thukpa – einer Suppe aus Nudeln und Gemüse – die Biskuits und Pralinen auf den Tisch legt, ist das Staunen groß: Hier ist ein kleines Wunder geschehen.
    Doch auch in dieser Nacht hört Tamding seine Ama weinen, und er weiß, daß das Problem seiner Eltern mit Biskuits und Bonbons nicht zu lösen ist.

Tibetisches Kinderdorf, Ladakh, im Sommer 1998
    Den Gedanken, Bergführerin für tibetische Flüchtlingskinder zu werden, habe ich erst mal verworfen. Etwas zu abgefahren. Ich beschließe, einen Benefizabend für tibetische Flüchtlingskinder zu machen. Wozu bin ich Schauspielerin? Neben meinem Bett liegt das Telefon, und ich wähle die Nummer meiner Freundin Andrea. Sie spielt Saxophon und ist eine begeisterte Bergsteigerin. Vor allem bergauf. Runter fliegt sie neuerdings mit dem Paraglider. Wir könnten das erspielte Geld unseres Auftritts direkt in den Himalaya bringen und mit einer Bergtour verbinden. »Bergsteigen ist immer gut«, sagt Andrea, gähnt und legt wieder auf. Es ist
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