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Flucht im Mondlicht

Flucht im Mondlicht

Titel: Flucht im Mondlicht
Autoren: N. H. Senzai
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wimmelte es von Menschen mit lächelnden Gesichtern, die Namen riefen oder mit Schildern winkten, auf denen Namen standen.
    »Wer wird uns abholen?«, fragte Noor. Ihr langes schwarzes Haar hing ihr ins Gesicht wie ein Vorhang.
    »Dein Onkel Amin«, sagte Safuna. Sie beugte sich in ihrem Rollstuhl vor und suchte mit den Augen die Menge ab.
    Fadi erinnerte sich verschwommen, dass er Onkel Amin kennengelernt hatte, als sie vor fünf Jahren nach Kabul zurückgekehrt waren. Onkel Amin war mit Tante Nilufer, der jüngeren Schwester von Fadis Mutter, verheiratet. Und er war ein Vetter dritten Grades von Safuna, denn seine Mutter war eine Cousine ersten Grades von Safunas Vater. So kompliziert konnten afghanische Familienverhältnisse sein.
    Onkel Amin war ein netter humorvoller Mann. Er hatte einst als Arzt in Kabuls größtem Krankenhaus ge­arbeitet. Als dieses bei einem der vielen Gefechte zwischen rivalisierenden Kriegsherrn zerstört worden war, hatte er beschlossen, das Land zu verlassen. Während er die Ausreise seiner Familie vorbereitet hatte, hatte Tante Nilufer mehrmals in Madison angerufen und Safuna und Habib dringend davon abgeraten, nach Kabul zurückzukommen. Aber Habib war damals fest entschlossen, nach Afgha­nis­tan zurückzukehren, und er war davon überzeugt, dass Flüchtlinge wie Amin und Nilufer zurückkommen würden, wenn die Taliban im Land erst wieder Recht und Ordnung hergestellt hatten.
    Wenige Monate nach der Rückkehr von Habibs Familie nach Kabul hatte Onkel Amin seine Familie und seine El tern, Abai und Dada, über die iranische Grenze gebrac ht. Im Iran hatte er ein Jahr lang für eine internationale Hilfsorganisation in einem Flüchtlingslager gearbeitet. Dann war er mit seiner Familie über London in die Vereinigten Staaten ausgereist. Im selben Jahr verließ auch Safunas älterer Bruder Afghanistan. Er ging mit seiner Familie nach Deutschland. Nur Mastura, Safunas jüngste Schwester, blieb in Kabul. Sie wohnte mit ihren beiden Kindern bei ihren Schwiegereltern, seit ihr Mann im Krieg mit den Sowjets ums Leben gekommen war.
    »Da!«, rief Safuna. »Da ist er!«
    Ein großer dickbäuchiger Mann mit schütterem Haar stand hinter einer Frau, die Rosen in der Hand hielt, und winkte ihnen lebhaft zu.
    »Da ist er«, wiederholte Safuna mit einem seltenen Lächeln auf den blassen Lippen.
    » Salam alaikum !«, rief Onkel Amin und umarmte Habib. Ein Junge in Fadis Alter, der sich hinter Onkel Amin herumgedrückt hatte, trat vor und küsste Safuna auf die Wange.
    » Maschallah , Salmai«, sagte Safuna. »Wie groß und stattlich du geworden bist.«
    Salmai errötete und murmelte etwas.
    »Fadi, komm her und begrüße deinen Vetter«, sagte Safuna.
    » Salam alaikum «, sagte Fadi und reichte Salmai die Hand.
    » Walaikum salam «, erwiderte Salmai. »War eine lange Reise, was?«, fügte er schnell hinzu.
    »Allerdings.« Fadi verzog gequält das Gesicht. »Wir waren ewig lange unterwegs.«
    »Salmai, hilf deinem Onkel Habib mit den Koffern«, sagte Onkel Amin. »Fadi, bist du das? Meine Güte, du warst noch ein Winzling, als ich dich in Kabul zum letzten Mal sah. Und du, Noor, bist zu einer jungen Dame herangewachsen. Jetzt rennst du nicht mehr mit Zöpfchen und einer Rotznase herum.«
    Noor wurde rot und murmelte ihre Salams .
    Fadi erstarrte. Was ist, wenn Onkel Amin jetzt nach Mariam fragt? Oder weiß er Bescheid? Dann fiel ihm ein, dass seine Eltern von Peschawar aus all ihre Verwandten angerufen hatten, um ihnen mitzuteilen, was passiert war.
    »Also dann, lasst uns gehen«, sagte Onkel Amin und führte sie auf große Glastüren zu, die hinaus in den Abhol­bereich vor dem Flughafengebäude führten.
    »Wartet hier. Ich hole den Wagen«, sagte er.
    Eine halbe Stunde später saß Fadi eingezwängt auf dem Rücksitz eines zerbeulten Dodge Caravan. Noors Ellbogen drückte ihm in den Rücken. Er schob ihn weg und rutschte näher an die Tür. Dann presste er die Nase gegen die Fensterscheibe und beobachtete den Verkehr, während sie das Flughafengelände verließen und auf den Highway 101 fuhren.
    »Und? Wie geht’s der Familie?«, fragte Habib.
    »Alle sind wohlauf, Alhamdulillah «, erwiderte Onkel Amin. »Nilufer ist ganz aufgeregt vor Freude, dass ihr kommt. Sie und meine Mutter haben den ganzen Tag gekocht.«
    »Ja, ja«, sagte Safuna vom Rücksitz aus. »Ich habe sie zu lange nicht mehr gesehen. Sie war immer schon die beste Köchin von uns dreien. Mein Interesse galt eher der
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