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Flucht im Mondlicht

Flucht im Mondlicht

Titel: Flucht im Mondlicht
Autoren: N. H. Senzai
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verständigen, wenn ihr Büro oder eine der anderen regierungsunabhängigen Flüchtlingshilfsorganisationen vor Ort Mariam ausfindig macht.«
    Safuna sah weg und kräuselte ihre zitternden Lippen. Noor ließ sich in ihren Sitz zurücksinken und seufzte.
    Ohne großen Appetit zog Fadi die Alufolie von seinem dampfenden Hähnchen und entfernte die Schutzhüllen vom Plastikbesteck. Als der Löffel in seine Hand glitt, hielt er verwirrt inne. Wie durch einen Nebel hörte er Mariams Stimme.
    »Fadi!«, rief Mariam. »Ich will den Löffel!«
    »Meinetwegen«, knurrte Fadi, reichte ihr den Holzlöffel und behielt die Stahlgabel mit den gebogenen Zinken.
    Die Sonne ging gerade unter und die beiden hockten u nter dem einsamen Pflaumenbaum im Garten hinter de m Haus. In weniger als zwölf Stunden würden sie in einem Taxi sitzen, das nach Dschalalabad fuhr. Fadi blickte zum Haus zurück. Die letzten Sonnenstrahlen erleuchteten die Fensterscheiben und färbten sie silbern. Auf beiden Seiten des Hauses wuchsen Rosenbüsche, die sein Großvater vor Jahren gepflanzt hatte. Sie waren bereits verwelkt. Fadi fragte sich, ob er all das je wiedersehen würde.
    »Bist du bereit?« Mariam riss ihn aus seinen trübsin­nigen Gedanken und lächelte ihn erwartungsvoll an.
    »Ja, ich bin bereit«, knurrte Fadi. Den ganzen Nachmittag hatte sie ihm vorgejammert, dass sie ihren Schatz nicht zurücklassen konnte, bis er schließlich eingewilligt hatte, ihr zu helfen.
    Mariams Lächeln verflog, als sie mit den Augen den Boden um den knorrigen Baum absuchte. Sie blies die Backen auf und inspizierte den Stamm, dessen Rinde von der Dürre so ausgetrocknet war, dass sie abblätterte. Ihre Augen weiteten sich vor Panik. »Ich weiß nicht mehr, wo ich ihn vergraben habe«, piepste sie.
    Fadi seufzte. »Mariam«, sagte er leise. »Wir haben no ch einiges zu packen und wir brechen morgen in aller Frühe auf. Ist dieser Schatz von dir wirklich so wichtig?«
    »Ja«, quäkte Mariam. Ihre Unterlippe zitterte.
    »Schon gut. Weine nicht«, sagte Fadi. »Beginne einfach irgendwo zu graben.«
    In der nächsten Stunde krochen sie im Licht des Vollmonds und einer tropfenden Kerze, die Fadi im leeren Haus gefunden hatte, auf dem Boden herum und gruben ein flaches Loch nach dem anderen. Beim sechsundzwanzigsten, als Fadi schon aufgeben wollte, stießen sie schließlich auf eine kleine Blechbüchse.
    »Da ist mein Schatzkästchen!«, rief Mariam und zog mit ihren kleinen Fingern, deren Nägel schwarz von Dreck waren, eine alte Honigbüchse zwischen den Wurzeln des Baumes hervor. Sie setzte sich mit einem breiten Grinsen hin. Fadi sah ihre Zähne im Mondlicht schimmern.
    »Na also. Was ist denn so Wichtiges darin?«, fragte er.
    Mariam öffnete den rostigen Deckel und leuchtete mit der Kerze hinein. Da war ein kleines Plastiktöpfchen mit Mariams Milchzähnen, eingewickelt in einen Fetzen lila Samt. Daneben lag Gulminas Hand, die von einem Metallzaun abgetrennt worden war. Dann waren da noch ein kaputter Perlenohrring, der ihrer Mutter gehört hatte, eine von Noors alten Gürtelschnallen, die mit funkelnden bunten Glassteinchen besetzt war, ein glänzender Stein, der einem Goldklumpen ähnelte, die Quaste von Habibs Doktorhut von der Universität von Wisconsin und alte Fotos mit Wasserflecken, von denen Fadi gedacht hatte, ihre Mutter hätte sie weggeworfen. Eines zeigte Fadi, der Mariam in den Armen hielt, als sie noch ein Baby war.
    »Mann, du hast das Zeug aufgehoben?«, staunte Fadi.
    »Klar, das sind alles Erinnerungen meines Lebens«, sagte Mariam.
    »Na, dann bin ich froh, dass wir sie gefunden haben.«
    »Kannst du die Büchse in deinem Rucksack für mich mitnehmen?«
    »Natürlich«, sagte Fadi und zog Mariam hoch. Staubig und verdreckt liefen sie ins Haus, um sich zu waschen, bevor ihre Mutter sie fand.
    Der Löffel fühlte sich in Fadis Hand kalt und feucht an. Er ließ ihn auf seinen Schoß fallen, wandte sich von dem ausgeklappten Tischchen mit dem Tablett ab und sank in seinen Sitz zurück. Eine Menge Leute suchen nach ihr . Sie wird bald gefunden werden , dachte er. Aber eine dunkle Stimme in seinem Hinterkopf sagte vorwurfsvoll: Es hätte gar nicht erst dazu kommen dürfen, dass sie nun allein irgendwo herumirrt. Hätte ich nur angehalten und ihre blöde Barbie in meinen Rucksack gepackt. Wenn ich ihr diesen Wunsch erfüllt hätte, dann wäre ihr die Puppe nich t heruntergefallen. Es war alles meine Schuld . Er zerriss sein Brötchen, sodass die
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